Berlin. Die Sozialdemokraten wollen nach den historischen Stimmenverlusten ihr Wahldebakel aufarbeiten - doch ohne ihre bisherige Regierungsarbeit in Frage zu stellen. Was sie Schwarz-Gelb entgegensetzen wollen, bleibt offen. Es fehlt an Leidenschaft und Ideen. Eine Analyse.
Finanzpolitisch: unseriös. Sozialpolitisch: ungerecht. Wirtschaftspolitisch: ideenlos. Umweltpolitisch: rückwärtsgewandt. Wer immer im Willy Brandt-Haus dem scheidenden Generalsekretär Hubertus Heil diese und andere Stichworte zur Charakterisierung der Startbruchlandung von Schwarz-Gelb aufschrieb, er oder sie hat etwas wichtiges vergessen: Wer Opposition sein will, der muss Zuversicht und Leidenschaft verkörpern.
An beidem, so hatte man am Montag in der SPD-Zentrale den Eindruck, mangelt es den an ihrer historischen Wahlniederlage laborierenden Sozialdemokraten. Heils Auftritt vor einer sehr überschaubaren Anzahl von Journalisten wollte so gar nicht passen zum Schauspiel der Widersprüche und Zerrissenheiten, das sich die neue Regierung erlaubte, noch bevor am Abend der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP unterschrieben wurde. Von einem „Signal der Verunsicherung” redete Heil und davon, dass die zweite Regierung Merkel auf breiter Front den „Einstieg in die Entsolidarisierung unserer Gesellschaft” vorbereite.
"Als wären wir noch gar nicht auf dem Platz"
Was die SPD dem entgegensetzen wird, blieb offen. Nur so viel: „Wir werden in der Opposition nicht nur kritisieren, sondern unsere Alternativen klar herausarbeiten.” Welche das sein mögen, nun daran wird an der Parteispitze bereits gefeilt. Für den Dresdener Parteitag vom 13. bis 15. November liegt jetzt ein Leitantrag der Parteispitze vor, der (mit Ausnahme zweier Enthaltungen) am Montag die Zustimmung des 45-köpfigen Parteivorstands fand. „Eine irritierend ruhige Diskussion war das”, sagte später ein Teilnehmer; „so, als wären wir noch gar nicht auf dem Platz.”
Eine Formulierung, die recht gut beschreibt, wo die SPD derzeit steht: zwischen Anstoßkreis und Umkleidekabine. Das zu ändern, soll die neue Leitlinie erleichtern, die der Partei einen kraftraubenden Spagat zumutet. Zum einen sollen – vom Ortsverein bis in die Berliner Spitzen – bis 2011 alle inhaltlichen und organisatorischen Konsequenzen aus dem Desaster bei der Bundestagswahl gezogen werden.
Zum anderen will die SPD ihren Reformanteil aus elf Jahren Regierungsverantwortung selbstbewusst herausarbeiten. Ohne Schönfärberei. „Unsere Politik hat auch Schwächen und Fehler gehabt.” Manche beschlossenen Gesetze hätten das „persönliche und gesellschaftliche Gerechtigkeitsempfinden verletzt”, heißt es im Leitantrag.
Die Hartz-IV-Reformen aus 2004 und die Entscheidung der schwarz-roten Bundesregierung für die Rente mit 67 „wurden von vielen Wählerinnen und Wählern nicht akzeptiert”. Welche Schlussfolgerungen genau die Partei daraus ziehen will, ist nun allgemeine Zukunftsaufgabe. Um „Mehrheitsfähigkeit und Meinungsführerschaft” zu erlangen und eine „neue gesellschaftliche Verankerung” zu erzielen, will die SPD nicht nur stärker auf ihre Basis hören (Mitgliederbefragung), sondern den Dialog mit Vereinen und Verbänden sowie mit „kritischen Köpfen in Wissenschaft, Kultur und sozialen Bewegungen” intensivieren; ein Wink auch an die Internet-Gemeinde.
Steinmeier warnt vor Distanzierung von der einistigen Politik
Teilnehmer der mehrstündigen Beratung beschrieben einen „breite Zustimmung” für die Position des gescheiterten Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier, der vor Kurzschlussreaktionen und einer radikalen Distanzierung von der eigenen Regierungspolitik warnte. Bis auf einige wenige Ergänzungen, etwa bei der Bildungspolitik oder den kommunalen Finanzen, sei der Leitantrag allgemein als „vernunftbegabte Grundlage für weitere Diskussionen empfunden worden”.
Dies gelte auch für einen Schlüsselsatz, der den Abstand zur Linkspartei neu vermessen helfen soll: „Weder schließen wir bestimmte Koalitionen aus Prinzip aus noch streben wir aus Prinzip bestimmte Koalitionen an.”
Ob der Dresdener Parteitag das widerspruchslos mitmachen wird, ist ungewiss. Bereits am 8. November wollen sich linke Sozialdemokraten dem Vernehmen nach in Kassel zum großen Scherbengericht treffen. Vielleicht ist auch so die mangelnde Zuversicht und Leidenschaft im Auftritt von Hubertus Heil zu erklären.