Berlin. . SPD-Chef Gabriel hat Kanzlerin Merkel vorgeworfen, bei der Verlängerung der Laufzeiten für AKW vor sechs Monaten “die Unwahrheit gesagt“ zu haben. Sie habe damals erklärt, die AKW seien zur Sicherstellung der Versorgung mit Strom erforderlich.
SPD-Chef Sigmar Gabriel hat Bundeskanzlerin Angela Merkel vorgeworfen, bei der Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke vor sechs Monaten "die Unwahrheit gesagt" zu haben. "Sie hat die Öffentlichkeit getäuscht", sagte Gabriel am Dienstag in Berlin weiter. Die Kanzlerin habe damals erklärt, alle Sicherheitsfragen seien geklärt, und die Atomkraftwerke seien zur Sicherstellung der Versorgung mit Strom erforderlich. "Heute steht fest, nichts entspricht der Wahrheit", sagte Gabriel. Nun würden sieben Atomkraftwerke abgeschaltet ohne Versorgungsprobleme und umfassende Sicherheitsüberprüfungen.
Die CDU-Chefin wolle nur Zeit gewinnen über die anstehenden Landtagswahlen hinaus, sagte Gabriel: "Das dient dazu, über den Wahltermin zu kommen." In Sachsen-Anhalt steht am Sonntag die Landtagswahl an, in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wird eine Woche später am 27. März gewählt. In Baden-Württemberg, wo nun zwei Atommeiler vorerst abgeschaltet werden, ist die Wiederwahl der CDU-geführten Landesregierung ungewiss.
Gabriel zeigte sich überzeugt, dass die von der Kanzlerin nun angeordnete zeitweise Abschaltung der sieben ältesten Atommeiler nicht von Dauer sein werde. "Die sieben müssen dauerhaft vom Netz, und das alte Ausstiegsgesetz muss wieder in Kraft gesetzt werden", forderte Gabriel. Wenn Merkel dazu bereit sei, könne sich die SPD vorstellen, gemeinschaftlich mit der Koalition über die für einen rascheren Ausbau erneuerbarer Energien erforderlichen Investitionen zu sprechen.
Merkel, CSU-Chef Horst Seehofer und der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) wiesen Vorwürfe zurück, die Laufzeitverlängerung werde nur ausgesetzt, damit die CDU die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg gut bestehe. Nach den Ereignissen in Japan erwarteten die Menschen, dass die Politik auch hier in Deutschland handle, sagte Mappus.
Sieben Atommeiler werden während Moratoriums stillgelegt
In Deutschland werden wegen der drohenden Atom-Katastrophe in Japan die sieben ältesten Atomkraftwerke vorübergehend stillgelegt. Es handele sich dabei um die Meiler, die vor 1980 ans Netz gegangen seien, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Dienstag nach dem Atom-Treffen mit den Länder-Ministerpräsidenten in Berlin.
Die Meiler sollen für die Zeit des am Montag angekündigten Laufzeit-Moratoriums vom Netz genommen werden, während ihre Sicherheit überprüft wird. Die anderen deutschen Akw sollen während der Sicherheitsüberprüfung in den kommenden Monaten am Netz bleiben. Bei den älteren Meilern handelt es sich um Biblis A und B, Neckarwestheim, Brunsbüttel, Isar 1, Unterweser und Philippsburg 1. Am Montag hatte Merkel verkündet, die erst Ende 2010 beschlossene Laufzeitverlängerung werde für drei Monate ausgesetzt.
"Das Atomkraftwerk Neckarwestheim 1 wird dauerhaft abgeschaltet und stillgelegt", sagte Mappus im Stuttgarter Landtag. Zuvor hatte der Chef des Betreiberkonzerns EnBW, Hans-Peter Villis, erklärt, wegen der erforderlichen Nachrüstungen sei ein dauerhaft wirtschaftlicher Betrieb des Atommeilers nicht mehr möglich. Eon begann ebenfalls mit den Vorbereitungen zum Abfahren von Isar 1.
Versorgungssicherheit sei gewährleistet
An dem Treffen nahmen auch die Bundesminister für Umwelt und Wirtschaft, Norbert Röttgen und Rainer Brüderle, teil. Röttgen sagte, das geltende Atomgesetz decke die vorübergehende Abschaltung der Meiler ab. Brüderle betonte, es gebe auch ohne die sieben Anlagen eine hinreichende Versorgungssicherheit in Deutschland.
Protest gegen Atomkraft
Norbert Röttgen (CDU) sagte, die Abschaltung erfolge vorsorglich. Ob alle oder einzelne der sieben Atomkraftwerke nach der Abschaltung und Überprüfung wieder ans Netz gehen, sei offen.
Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Peter-Harry Carstensen (CDU) kündigte an, er werde die zurzeit stillgelegten Meiler Krümmel und Brunsbüttel vorerst nicht wieder anlaufen lassen und auch darauf dringen, "dass die Betreiber auf das Wiederanfahren verzichten".
Merkel, CSU-Chef Horst Seehofer und der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus wiesen Vorwürfe zurück, die Laufzeitverlängerung werde nur ausgesetzt, damit die CDU die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg gut besteht.
Atomwirtschaft beugt sich Druck von Öffentlichkeit und Politik
Die deutschen Stromkonzerne beugen sich dem Druck von Öffentlichkeit und Politik und legen sieben ältere Atomkraftwerke vorläufig still. Der Chef des größten deutschen Energieversorgers Eon, Johannes Teyssen, betonte: "Wir haben Verständnis für die Sorgen auch der deutschen Bevölkerung und die darauf aufbauende politische Debatte über die aus der Entwicklung in Japan zu ziehenden Lehren." Das von der Bundeskanzlerin angeregte Moratorium und die Einrichtung eines Expertenrates seien dafür der richtige Weg.
Eon selbst begann nach eigenen Angaben bereits mit den Vorbereitungen zum Abfahren des Reaktors Isar 1. Der Konzern wolle damit einen Beitrag zur Versachlichung der aktuellen Diskussion leisten, sagte Teyssen.
RWE-Chef Jürgen Großmann hatte zuvor in einem Interview noch vor hohen Kosten gewarnt, sollte sich Deutschland aus der Atomenergie zurückziehen. Die Gesellschaft müsse anerkennen, "dass man in einem Industrieland nicht einfach so auf Kohle und Kernenergie verzichten kann, wenn man Wohlstand und Versorgungssicherheit erhalten will", zitierte ihn die "Zeit". Der RWE-Chef räumte allerdings gleichzeitig ein, dass nach den Atomunfällen in Japan die Sicherheitsauflagen auch der deutschen Atommeiler überprüft werden müssten.
Experte rechnet nicht mit deutlichem Strompreisanstieg
Trotz der Katastrophe in Japan will sich RWE aber nach den Worten des Managers nicht aus der Atomenergie zurückziehen. "Als Energieversorger prüfen wir natürlich, wo wir welche neuen Kraftwerke bauen können. Die Kernenergie bleibt dabei auch für uns eine Option, wie für viele andere Unternehmen auch", zitierte das Blatt den Manager.
Dramatische Preissteigerungen müssen die Verbraucher durch die vorläufige Stilllegung der sieben Altreaktoren nach Einschätzung des Energieexperten der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, Uwe Leprich, nicht befürchten. Selbst die Auswirkungen einer endgültigen Stilllegung dieser Reaktoren hielten sich nach seiner Einschätzung in engen Grenzen. Zwar könnte sich der Preis an der Strombörse dadurch um rund zehn Prozent erhöhen, meinte der Experte. Doch mache dieser Einkaufspreis nur ein Drittel des Strompreises aus, den der Haushaltskunde letztlich bezahle.
Welche Auswirkungen auf die Bilanz der Unternehmen der Stillstand der Reaktoren haben wird, konnten Sprecher von Eon und RWE zunächst nicht sagen. "Das wissen wir noch nicht und es ist im Moment auch nicht die entscheidende Frage", hieß es bei RWE.
Der Energiekonzern EnBW kündigte an, Neckarwestheim 1 in Kürze vorübergehend abzuschalten und voraussichtlich auch nicht wieder in Betrieb zu nehmen. Der Chef des größten deutschen Energieversorgers E.ON, Johannes Teyssen, betonte, die Branche habe Verständnis für die Sorgen der Bevölkerung. E.ON begann ebenfalls mit den Vorbereitungen zum Abfahren von Isar 1.
Brüderle schließt Preiserhöhungen nicht aus
Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) sagte, nun breche nicht nur eine Zeit des Nachdenkens an, sondern auch des Handelns. Die neue Lage nach den verheerenden Unfällen in Japan zwinge Deutschland zu einer umfassenden Überprüfung. Es gebe dabei keine Tabus und keine Vorfestlegungen. Ob im Sommer alle oder einzelne der sieben Atomkraftwerke nach der Sicherheits-Überprüfung wieder ans Netz gehen, sei offen.
SPD, Grüne und Linke kritisierten die Ankündigung. Die Grünen sprachen von einer "Bankrotterklärung der Regierung Merkel" und einer Wahlkampf-Inszenierung. Die SPD verlangte, die sieben Meiler nicht nur befristet für drei Monate stillzulegen, sondern auf Dauer. Die Linke erklärte, die große Mehrheit der Bevölkerung wolle kein Moratorium, sondern den schnellen Ausstieg aus der Atomenergie.
Rechtliche Grundlage ist nach Regierungsangaben Paragraf 19 des Atomgesetzes. Danach kann die Aufsichtsbehörde anordnen, den Betrieb von Anlagen "einstweilen" einzustellen, wenn Gefahren für Leben, Gesundheit oder Sachgüter drohen. Wann genau dieser Verwaltungsakt greift, blieb zunächst offen.
Ebenfalls offen ist nach Worten Merkels noch, ob nach Ablauf des dreimonatigen Moratoriums eine Übertragung noch nicht ausgeschöpfter Reststrommengen älterer Kraftwerke auf neuere möglich sein soll.
Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) versicherte, auch in den Monaten, in denen die Anlagen stilllägen, gebe es eine "hinreichende Versorgungssicherheit". Allerdings könnten Preiserhöhungen beim Strom nicht ausgeschlossen werden. Er plädierte für einen zügigen Ausbau der Stromnetze. Auch müsse die CCS-Technik zur unterirdischen Speicherung von Kohlendioxid aus Kohlekraftwerken weiterentwickelt werden. (dapd/afp/Reuters)