Karlsruhe. . Dürfen gefährliche Straftäter nach Verbüßung ihrer Haft in Sicherungsverwahrung genommen werden? Nur, wenn sie sich vom Strafvollzug nennenswert unterscheidet. Doch das sei in Deutschland nicht der Fall, so das Bundesverfassungsgericht.
Wer genau hinhörte, der ahnte schon bei den einführenden Worten von Andreas Voßkuhle, wo er die Schwerpunkte dieser Anhörung setzen würde. Einige Zitate aus früheren Urteilen, eine erste Einschätzung vorab, und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts ließ keinen Zweifel daran, was er als Manko der in Deutschland heftig umstrittenen Sicherungsverwahrung sieht: Diese unterscheide sich nur geringfügig vom normalen Strafvollzug und werde als Haft wahrgenommen – was sie jedoch nicht sein dürfe.
Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Bundesrepublik schon mehrfach verurteilte, mit der gängigen Praxis in der Sicherungsverwahrung gegen die Menschenrechte zu verstoßen, befasst sich nun das Karlsruher Bundesverfassungsgericht mit dem schwierigen Thema. Eine Grundsatzentscheidung, eine überfällige, wird erwartet. Vier als gefährlich beurteilte Straftäter, darunter auch der in Aachen eingesperrte Peter B., hatten sich nach dem ersten Urteil des EGMR vergeblich um ihre Freilassung bemüht und schließlich Verfassungsbeschwerde eingelegt.
Mit der Anhörung gestern, zu der auch Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) und zahlreiche Experten geladen waren, wurde deutlich erkennbar, wo die gesellschaftliche Trennlinie verläuft. Während die einen, darunter die Bundesjustizministerin und die bayerische Staatsministerin Beate Merk, am Status quo festhalten wollen und in erster Linie den Schutz der Bevölkerung sehen, bemängeln Kritiker wie der Tübinger Strafrechtler Jörg Kinzig ähnlich wie das Europäische Gericht, dass die Bundesrepublik noch immer Straftäter in einer Sicherungsverwahrung festhält, die erst am Ende der Haft nachträglich verhängt worden ist.
Übergang in Freiheit
Kinzig, der einen der Beschwerdeführer vertritt, betont, Studien zeigten, dass einerseits die Gefährlichkeit der Täter oft überschätzt werde, andererseits die Bedingungen der Sicherungsverwahrung denen der Haft zu ähnlich seien: „Auch den Schutzrechten der Bürger würde eher Rechnung getragen, wenn es eine bessere Resozialisierung für die Verwahrten gäbe, wenn ihr Übergang in die Freiheit begleitet würde.“
Intensiv befragen Präsident Voßkuhle und der Senat nicht nur Kinzig, sondern auch weitere Experten über die Situation von Sicherungsverwahrten, etwa der in der JVA Freiburg. „Wenn die Verwahrung solcher Rückfalltäter anders gestaltet würde“, wendet sich Voßkuhle schließlich an Kinzig, „würden Sie dann zu einer anderen rechtlichen Beurteilung kommen?“
„Ja“, antwortet der, „wenn es eine gute Resozialisierung gäbe, dann wäre es eine echte Maßregel und kein Strafvollzug mehr.“
Tatsächlich hat sich die Zahl der Verwahrten seit den 90er-Jahren verdreifacht. Im Mai 2010 waren es bundesweit 536 Rückfalltäter, 150 davon in NRW. Im Schnitt stehen ihnen 9,29 Quadratmeter Zelle zur Verfügung, nur minimal mehr als einem Strafgefangenen. Zwar können sie sich innerhalb von Wohngruppen freier bewegen als Inhaftierte. Wie eine angemessene Verwahrung jedoch aussehen müsste, skizziert Thomas Rösch, der Leiter der JVA Freiburg: „Räumlich getrennt vom normalen Strafvollzug, mit genügend Psychologen und Therapeuten.“
Spannung vor Urteil
Für NRW-Justizminister Thomas Kutschaty zeigte sich bei der Anhörung gestern deutlich die „Tendenz, die Sicherungsverwahrung in der jetzigen Form weiter zuzulassen, aber neu ausgestaltet“. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird frühestens in drei Monaten erwartet. Damit steht auch das seit Anfang des Jahres geltende Gesetz zur Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand, das deren nachträgliche Verhängung weitgehend abschaffte. Auf eines wies jedoch Gunter Widmaier, Vertreter einer der Beschwerdeführer, hin: Bei den 35 nach dem europäischen Urteil Freigelassenen gebe es bislang nur einen „bescheidenen Rückfall“.