Essen. Immer mehr öffentliche Räume werden per Videokameras überwacht, reklamieren Datenschützer. Doch ist das überhaupt notwendig? Sinken als Folge die Kriminalitätszahen? Experten streiten über Sinn und Nutzen des Überwachungsbooms.

Die Video-Überwachung von Häusern, Straßen, Geschäften, Verkehrsmitteln und auf Betriebsgeländen nimmt sprunghaft und un­kontrolliert zu. Das fürchten Datenschutzbeauftragte in Bund und mehreren Bundesländern. Oft werde dabei ­gegen Ge­­setze verstoßen, weil Kameras den Blick in private Räume, Arztpraxen oder Toiletten ermöglichten.

Die Bundesregierung räumt ein, den Überblick über die Entwicklung verloren zu ha­ben: „Ein maßgeblicher Teil der Videoüberwachung erfolgt durch nichtöffentliche Stellen. Eine Schätzung ist nicht einmal ansatzweise möglich.“

Das bestätigen auch die ­Datenschutzbeauftragen des Bun­des und des Landes NRW. Nach Einschätzung­ niedersächsischer Da­tenschützer hat sich die Zahl der Kameras in wenigen Jahren verzehnfacht.

In NRW beobachtet die ­Polizei in Mönchengladbach, Düsseldorf und Bielefeld Straßen und Plätze per Kamera. Mehrere tausend sind in Bahnen und Bussen im Ruhrgebiet installiert. Die Bundespolizei setzt bundesweit 3000 Geräte in Bahnhöfen ein.

Gisela Piltz, FDP-Bundestagsfraktions-Vize, ist be­sorgt. Die „teilweise rasante Zunahme des Einsatzes der Videotechnik“ sei „sehr problematisch“, so Piltz zur WAZ. „Jede Videoüberwachung stellt ­einen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Einzelnen dar.“ Die Technik führe nicht unbedingt zu mehr Si­cherheit, sondern habe „Verdrängungseffekte“.

Kommunen im Kamera-Kaufrausch

So bekam die Kundin einer Genossenschaftsbank in Stuttgart von ihrem Kreditinstitut eine Reinigungsrechnung. Die Video-Anlage der Bank hatte sie auf frischer Tat bei einer „fäkalen Verunreinigung durch Hereintragen von Hundekotspuren“ erwischt.

Darf das sein?, fragen sich die Datenschützer, wenn sie die Vermehrung der Kameraüberwachungen in öffent­lichen Räumen feststellen. Joachim Wahlbrink ist für die Einhaltung des Datenschutzrechts in Niedersachsen verantwortlich, ließ dort 3345 Kameras untersuchen. 99 Prozent hatten Macken. Die einen erlaubten per Zoom den Blick in das Innere von Senioren­heimen, Kliniken und Arztpraxen, andere machten die Speicherung der Filme bis zu sechs Monate möglich. „Auf zahlreiche Polizeikameras hatten andere Behörden und Firmen Zugriff, die mitunter Kamerabilder ins Internet stellen konnten“, stellt Wahlbrink in einem Bericht fest.

Was ihn am meisten überraschte: Der Überwachungsboom, der im Land ausgebrochen ist. Seit 2001 vergrößerte die Polizei den Kamera­bestand um 31 Prozent, was noch maßvoll ist. Kommunen sind dagegen in einem Kaufrausch: Statt 54 vor neun Jahren fand Wahlbrink jetzt 498 Geräte vor, ein Plus von 822 Prozent. 71 Kameras, 54 Attrappen und 121 Aufzeichnungsgeräte ließ er wegen rechtlicher Mängel stilllegen.

Auf 1000 Geräte eine aufgeklärte Straftat

Die Experten des Bundesdatenschutzbeauftragten befällt ein ungutes Gefühl – genau wie ihre NRW-Kollegen: Vieles sei „grenzwertig“. Einige Einsatzorte sind bekannt wie Hamburgs Reeperbahn, wo zehn Kameras aufnehmen. Auch Schulen beobachten oft unübersichtliche Ecken elektronisch. Ge-naue Zahlen aber kennt keiner, nicht mal die Bundesregierung, wie sie auf Nachfrage der Linken eingestand. Die Ausmaße aber sind jetzt schon enorm. In jedem der neuen Dortmunder U-Bahn-Wagen sind sieben Kameras angebracht. Stadtwerke-Sprecher Herbrand begründet dies mit Vandalismus. 179 Busse und 80 Straßenbahnen seien mit je fünf bis sieben Videogeräten ausgestattet. In anderen Revierstädten sei dies nicht anders. Herbrand versichert: Nur die Polizei habe Zugriff auf die Bilder, die überspielt würden, wenn der Film voll sei. Der Landesdatenschutzbeauftragte in Düsseldorf kritisiert: „Die Videoüberwachung in öffentlichen Verkehrsmitteln darf nicht der Regelfall sein, sondern nur stattfinden, wenn sie notwendig ist“.

Ist sie notwendig? Sinken die Kriminalitätszahlen? Polizeiexperten streiten darüber nicht nur in Deutschland. Tatort Großbritannien. London ist die am intensivsten videoüberwachte Stadt der Welt. Jeder Londoner läuft pro Tag 300 Mal in eine Kamera. Doch auf 1000 Geräte kommt nach einem Bericht der Metropolitan Police die Aufklärung nur einer Straftat.

Koffer-Bomber im Bild

Hierzulande sind die Ergebnisse zwiespältig. 2007 konnte so der gescheiterte Kofferbomber-Anschlag islamistischer Terroristen auf zwei Züge in Hamm und Koblenz aufgeklärt werden. Im Landtag wurden die Versuche in Düsseldorf, Mönchengladbach, Bielefeld und Aachen ausgewertet. Die Polizei räumte dabei ein, das „Sicherheitsempfinden der Bürger“ sei gestiegen, nicht die Sicherheit. In Aachen sind die Kameras seither ausgeschaltet.

In südwestdeutschen Städten stellten Behörden eine Verdrängung von Kriminalität in unüberwachte Ecken fest. Gisela Piltz, FDP-Fraktionsvize im Bundestag: „Selbst der Einsatz modernster Videoüberwachungstechnik kann die Arbeit engagierter Beamter niemals ersetzen“.

Oder eben Mittel, um dem Hundekot auf die Spur zu kommen. Die Frau aus Stuttgart hat übrigens nicht be-zahlt. Dafür erhielt die Bank eine Abmahnung.