Tunis. .
Die arabische Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Das Urlaubsland Tunesien erlebt einen Umsturz. In Ägypten musste Staatchef Mubarak den wütenden Protesten weichen. Im ölreichen Algerien rebellieren die Bürger, weil sie ihr täglich Brot nicht mehr bezahlen können. Und nun wankt auch der libysche Machthaber Gaddafi.
Auch im Irak will der Terror kein Ende nehmen, die Vertreibung der Christen aus Mesopotamien trägt längst die Züge einer historischen Katastrophe. Das Armenhaus Jemen ist auf der arabischen Halbinsel zu einem Brückenkopf von El Kaida geworden. Und dem Libanon droht ein neuer Bürgerkrieg.
Die Fundamente der Region, so formulierte US-Außenministerin Hillary Clinton dieser Tage, drohen im Wüstensand zu versinken. Keine andere Gegend der Welt hat so junge Menschen und so alte Autokraten. Von Marokko bis Libanon, von Ägypten bis Jemen gehört das Bevölkerungswachstum zum höchsten auf dem Globus. Zwei Drittel der Tunesier sind jünger als 30 Jahre. Im drangvoll engen Niltal kommen jedes Jahr 1,2 Millionen Menschen neu auf die Welt. Alle zwölf Monate drücken Hunderttausende Schulabgänger zusätzlich in den löchrigen Arbeitsmarkt – viel zu viele ohne jede Chance auf ein erträgliches Auskommen.
Wer die Macht hat, hält daran fest – bis zum letzten Atemzug
Ehemalige Staatschefs, das gibt es bei uns nicht, spotteten die Menschen in Tunis und Tripolis, in Kairo und Riad bisher. Wer in den 22 arabischen Staaten einmal an der Macht ist, hält daran fest – bis zum letzten Atemzug.
Tunesiens Zine el-Abidine Ben Ali regierte 23 Jahre, Hosni Mubarak war 30 an der Macht. Beider Nachbar Muammar Gaddafi ist mit 41 Jahren inzwischen der Rekordhalter auf dem Planeten. Das Vater-Sohn-Duo der Assads in Syrien herrscht seit 39 Jahren, Ali Abdullah Saleh im Jemen seit 32 Jahren, wenn man seine Zeit an der Spitze des früheren Nordjemen mitzählt.
Alle Macht geht vom Volke aus – dieser Satz gehört für die arabischen Potentaten allenfalls in das Poesiealbum westlicher Demokratierhetorik. Die Parteienlandschaft ist eine Farce. Regungen der Zivilgesellschaft werden als Bedrohung empfunden und nicht als Bereicherung. Soziale Medien im Internet nach Kräften gestört. Und ausgerechnet in den beliebten deutschen Urlaubsländern Tunesien und Ägypten landen Blogger und Journalisten regelmäßig hinter Gittern.
Stagnation ist das dominierende Lebensgefühl
Aber auch das Ende des Ölreichtums, auf den sich die Mächtigen bisher stützen konnten, ist inzwischen in Sichtweite. In den meisten Staaten reicht der schwarze Segen noch für eine Generation. Der Nachwuchs, der künftig seinen Lebensstandard komplett aus eigener Kraft erwirtschaften muss, drückt bereits die Schulbänke. Und immer mehr dieser jungen Menschen fragen sich, wohin die Reise eigentlich geht mit ihnen und ihrer Zukunft. Stagnation ist das dominierende Lebensgefühl.
Die Armut wächst genauso wie der religiöse Fanatismus. Entsprechend bescheiden fallen die Bilanzen aus bei Demokratisierung, moderner Erziehung und wirtschaftliche Entwicklung. Bei Frauenrechten und Frauenbildung stehen alle Regime zusammen am Ende der Weltrangliste. Und kein arabisches Land hat bisher einen funktionierenden Sozialstaat herausgebildet. Selbst im superreichen Saudi-Arabien gibt es Landstriche mit unvorstellbarer Armut.
60 Jahre lang hätten die Vereinigten Staaten im Nahen Osten Stabilität auf Kosten von Demokratie gefördert – und beides nicht erreicht, beklagte vor fünf Jahren Hillary Clintons Vorgängerin Condoleezza Rice in Kairo in einem seltenen Moment von Selbstkritik. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Allenfalls die Ratlosigkeit ist gewachsen angesichts einer Region, die ihrem sozialen und politischen Bankrott entgegen schlittert.