Berlin. Der neue Kanzler steht vor gigantischen Herausforderungen. Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm denkt schon an eine höhere Mehrwertsteuer.
Die Nürnberger Ökonomie-Professorin Veronika Grimm gehört als Mitglied des Sachverständigenrats zu den sogenannten Wirtschaftsweisen, den wichtigsten Wirtschaftsberatern der Bundesregierung. Im Interview blickt Grimm mit Sorge auf das Ergebnis der Bundestagswahl – und sagt, was ein Kanzler Friedrich Merz jetzt tun muss.
Die AfD hat ihr Ergebnis bei der Bundestagswahl verdoppelt. Welche Auswirkungen hat das auf unsere Wirtschaft?
Veronika Grimm: Wirtschaftlich sieht es schon jetzt nicht gut aus. Der Bruch der Ampelkoalition und die Minderheitsregierung haben die wirtschaftliche Lage in den letzten Monaten noch verschlechtert. Die hohe Zustimmung für die AfD, insbesondere im Osten, dürfte die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt bremsen. Die Fremdenfeindlichkeit, die diese Partei schürt, könnte den Fachkräftemangel verstärken. Auch Investoren könnten vorsichtiger sein, in Deutschland zu investieren. Das würde bedeuten, dass Investitionen ausbleiben, die dringend notwendig sind. Je geringer das verfügbare Arbeitsvolumen, desto mehr Dynamik brauchen wir eigentlich bei den Investitionen und beim technologischen Fortschritt. Danach sieht es aber aktuell überhaupt nicht aus. Die Investitionen sind rückläufig, die deutsche Wirtschaft steckt fest.
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Was sind die drei wichtigsten Aufgaben eines Bundeskanzlers Friedrich Merz, einer schwarz-roten Koalition?
Grimm: Es ist eine Herausforderung, nur drei Aufgaben zu nennen. Wir brauchen eine Wachstumsagenda. Und es muss gelingen, im Haushalt konsequent umzuschichten, um Spielräume für die Verteidigungsausgaben im Kernhaushalt zu schaffen. Das bedeutet Strukturreformen, die Einsparungen beim Bürgergeld, bei der Rente, bei der Wohnungspolitik und beim Klimaschutz ermöglichen, ohne die Bedürftigen fallen zu lassen oder die Klimaschutzziele zu ignorieren. Die Energie- und Klimapolitik muss auf die Kosteneffizienz fokussieren und stärker mit marktorientierten Ansätzen anstatt mit Subventionen arbeiten. Die Energiekosten müssen runter. Über die Stärkung der Verteidigungsausgaben kann und muss es gelingen, zu einer Wachstumsdynamik beizutragen. Das könnte etwa möglich sein, wenn ein großer Teil der Aufstockung des Etats in die militärische Forschung zu künstlicher Intelligenz, in der Raumfahrt oder in andere innovative Bereiche fließt. In den USA ist es zum Beispiel gelungen, aus der militärischen Forschung Übertragungseffekte für die private Wirtschaft zu realisieren, die die Grundlage der heutigen Innovationskraft sind.
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Halten Sie eine Reform der Schuldenbremse für verzichtbar?
Grimm: Es ist fraglich, ob eine Reform der Schuldenbremse gelingt. Die Befürworter einer solchen Reform haben schon im Wahlkampf gesagt, dass sie keine Einschnitte bei den Sozialausgaben hinnehmen möchten. Dafür die Schuldenbremse zu reformieren, dürfte aber nicht das Ziel der Union sein. Außerdem haben die Parteien, die sich gegen eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben aussprechen, eine Sperrminorität. Ein Sondervermögen für die Erhöhung der Verteidigungsausgaben wird es mit Ihnen also zum Beispiel nicht geben. Ich bin mir sicher, dass man intensiv über Möglichkeiten sprechen wird. Relevant ist es aber ohnehin nur, wenn die Europäische Union die EU-Fiskalregeln erneut aussetzt. Wenn nicht, so hat Deutschland auf absehbare Zeit ohnehin keine weiteren Spielräume.
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Was bedeutet das für die Steuern? Wer soll mehr, wer weniger zahlen?
Grimm: Deutschland ist mittlerweile eines der Länder mit den höchsten Unternehmenssteuern, auch in der EU. Zugleich kündigen die USA eine deutliche Absenkung der Unternehmenssteuern an. Wir müssen also etwas tun. Um das Wachstum zu dynamisieren, müssen die Unternehmenssteuern deutlich gesenkt werden, ebenso wie die Einkommensteuern und die Lohnnebenkosten. Wenn der Wachstumsimpuls, der dadurch ausgelöst wird, nicht ausreicht, dann könnte man bei der Mehrwertsteuer oder bei den Steuern auf Grund und Boden über Erhöhungen nachdenken. Bei der Mehrwertsteuer könnte man insbesondere die zahlreichen Ausnahmen in den Blick nehmen.
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Der Militärexperte Carlo Masala hat einen neuen Solidaritätszuschlag gefordert, um Deutschland verteidigungsfähig zu machen. Unterstützen Sie das?
Grimm: Das halte ich für kontraproduktiv, denn es bremst das Wachstum. Wir sollten darauf achten, Unternehmen zu entlasten. Ein Solidaritätszuschlag würde in unserem Steuersystem viele klein- und mittelständische Unternehmen direkt treffen. Das sollten wir uns aktuell nicht leisten, da wir dringend auf die Rückkehr des Wachstums angewiesen sind. Ohne Wachstum stagnieren auch die Steuereinnahmen und somit das Finanzierungspotenzial auch für die Verteidigungsausgaben. Zudem würden bei Stagnation die Verteilungskonflikte und somit die Unzufriedenheit zunehmen und es wäre zu erwarten, dass wir bei den nächsten Bundestagswahlen eine noch weiter erstarkte AfD sehen. Die nächste Bundesregierung steht vor einer Mammutaufgabe. Man kann nur hoffen, dass sich alle Beteiligten dieser Herausforderung bewusst sind. Wenn es wieder so viel Streit gibt wie in der Ampelkoalition, dann dürften in den kommenden Jahren sehr düstere Wolken aufziehen.