Moskau. Ein behinderter Saxofonist, ein krebskranker Historiker: Hunderte stecken in Russlands Straflagern. Man gerät schnell ins Kreml-Visier.

Seinen Geburtstag in Haft zu erleben, muss alles andere als schön sein. Doch genau das hat der russische Historiker Juri Dmitrijew Ende Januar erlebt. Er ist zu 15 Jahren Haft verurteilt, sitzt im Straflager IK-18 in Potma in der Region Mordwinien, mehr als 500 Kilometer südöstlich von Moskau. Der 69-Jährige ist schwer krank, leidet an Krebs. Trotz seiner Erkrankung erhalte er keine angemessene medizinische Hilfe, teilt die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete russische Menschenrechtsorganisation „Memorial“ mit.

Fehlende ärztliche Behandlung verschlimmere seine Lage zunehmend. „Memorial“ beklagt, dass nach einer Blutuntersuchung von Ärzten angeforderte Gewebeproben des Patienten auf unerklärliche Weise verschwunden seien. Zudem hätten verschriebene Medikamente den Zustand Dmitrijews, der eine Vielzahl gesundheitlicher Beschwerden habe, nur noch weiter verschlechtert.

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Verurteilt wurde der Historiker 2021 wegen angeblicher Misshandlung seiner Stieftochter. Eine konstruierte Anklage, das meinen viele. Von Justizwillkür ist die Rede. Juri Dmitrijew bestreitet seine Schuld. Er gilt als politischer Gefangener, weil er einst unter Sowjetdiktator Josef Stalin begangene Verbrechen öffentlich und sich damit Feinde im Machtapparat gemacht hatte. Seit langem fordert die Europäische Union die Freilassung des Wissenschaftlers, nicht zuletzt aus humanitären Gründen, wegen seines Alters und seiner Erkrankungen.

Russland: Dmitrijew hat die Toten der Stalin-Zeit dem Vergessen entrissen

Über Jahrzehnte recherchierte Juri Dmitrijew zu den Verbrechen der Stalinzeit, dokumentierte die Identität von Erschossenen in Massengräbern unter anderem in Sandarmoch, einem Ort einige hundert Kilometer nordöstlich von Sankt Petersburg. „Dank Dmitrijews Suche in Archiven kennen wir heute die Namen aller in Sandarmoch Hingerichteten. 6241 Namen, ihr Geburtsjahr, ihren Beruf, das genaue Datum des Arrests, des Urteils und der Hinrichtung“, erklärt Irina Flige von „Memorial“. „Jede Hinrichtung konnte er mit Einträgen in Archivdokumenten belegen. Es gibt in ganz Russland keinen anderen, auf diesem Niveau dokumentierten Ort der Opfer staatlichen Terrors.“

PETROZAVODSK, RUSSIA - DECEMBER 27, 2021: Yuri Dmitriyev, Karelian branch manager of the Memorial Human Rights Centre (
Der Historiker Juri Dmitrijew sitzt im Straflager und ist schwer krank. Er recherchierte seit Jahrzehnten zu den Verbrechen der Stalinzeit. © imago images/ITAR-TASS | IMAGO stock

In seinem Schlusswort vor Gericht sagte Dmitrijew: „Mein Weg hat mich dahin geführt, dass ich Menschen aus dem Vergessen zurückgeholt habe, die verschwunden waren. Menschen, die durch Schuld unseres eigenen Staates zu Unrecht bezichtigt, erschossen, in Wäldern verscharrt wurden, wie streunende Tiere.“ Seine Beweggründe erläuterte der Historiker in einem Interview mit der Zeitung „Nowaja Gaseta“: „Ein Mensch ohne historisches Gedächtnis ist nicht einmal imstande, darüber nachzudenken, ob seine Handlungen und Taten dem Wohl seines Volkes, seines Heimatlandes dienen.“ Und weiter: „Jede Regierung versucht, die Geschichte zu ihren Gunsten umzuschreiben und ihre eigenen Interessen durchzusetzen.“

NameWladimir Wladimirowitsch Putin
Geburtsdatum7. Oktober 1952
GeburtsortSankt Petersburg
AmtPräsident der Russischen Föderation
Im Amt seit2000 (Unterbrechung von 2008 bis 2012)
FamilienstandGeschieden, mindestens zwei Kinder
Größeca. 1,70 Meter

Für Russlands Machtapparat ist Dmitrijews Arbeit sicherlich unbequem. Längst betreibt man eine neue Geschichtspolitik. Recherchen zur Stalinzeit sind nicht verboten, sie sind nur schwieriger geworden. Die Organisation „Memorial“, der Dmitrijew angehört, wurde als „ausländischer Agent“ diffamiert und schließlich zwangsaufgelöst. „Memorial steht wie keine andere Organisation für ein offenes, menschenfreundliches, demokratisches Russland, das die Versöhnung innerhalb der eigenen Gesellschaft und mit seinen Nachbarn sucht“, so sieht es „Amnesty International“. Die „Auseinandersetzung mit der Repressionsgeschichte der Sowjetunion, der Rehabilitierung von Opfern und der Verteidigung der Menschenrechte heute hat Memorial weltweit viel Anerkennung und Respekt eingebracht.“

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Laut „Memorial“ ist Juri Dmitrijew ist einer von mindestens 820 Gefangenen, die in Russland aus politischen Gründen inhaftiert sind. Beim Gefangenenaustausch im letzten August kamen einige prominente Oppositionelle frei, darunter Wladimir Kara-Mursa und Ilja Jaschin. Auch Oleg Orlow, Mitbegründer von „Memorial“, wurde freigelassen. Dass Dmitrijew nicht auf der Austauschliste war, das hatte viele seiner Unterstützer erstaunt. Opposition, Kritik an den bestehenden Verhältnissen ist in Russland kaum noch möglich. Zuletzt traf es die Anwälte des unter nach wie vor ungeklärten Umständen verstorbenen Kremlkritikers Alexej Nawalny. Ein russisches Gericht hatte Igor Sergunin, Alexej Lipzer und Wadim Kobsew zu dreieinhalb, fünf und fünfeinhalb Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Sie wurden schuldig gesprochen, Mitglied einer extremistischen Vereinigung zu sein.

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#9 Lars Klingbeil über seinen Soldatenvater und das Sterben im Krieg

Meine schwerste Entscheidung

Den vielen weiteren unbekannten Menschen, die aus politischen Gründen inhaftiert sind, gibt „Memorial“ auf seiner Website ein Gesicht. Parwina Abuzarowa zum Beispiel, eine Bloggerin aus Kasan. Sie hatte in ihrem Blog „die spezielle Militäroperation verurteilt“, so die Staatsanwaltschaft. Ihr Urteil: drei Jahre Straflager. Oder der Funk-Amateur Kirill Akimow. Angeblich hatte er in Funkgesprächen zu „terroristischen Handlungen“ aufgerufen, habe „Streitkräfte der Russischen Föderation negativ bewertet“, so dokumentiert es „Memorial“. In Russland ist das eine Straftat. Verurteilt wurde Akimow zu sechs Jahren Straflager. Seit Juni 2022 ist er in Haft. Jüngstes Beispiel: Gleichfalls sechs Jahre Straflager erhielt der behinderte Saxofonist Andrej Schabanow. Der Gegner des Kriegs gegen die Ukraine wurde für schuldig befunden, „Aufrufe zum Terrorismus“ gemacht zu haben.