Düsseldorf. Eine Expertenanhörung im Landtag beleuchtet die Krise des Einzelhandels in NRW. Ein Befund: Die Innenstädte müssen komplett umdenken.
Die Krise des NRW-Einzelhandels hat die Debatte über eine weitergehende Sonntagsöffnung neu entfacht. „Die bestehenden Regelungen zur Öffnungsmöglichkeit an Sonntagen erfordern ebenso eine Anpassung an die modernen Gegebenheiten wie die Regelung zur Öffnung sogenannter Smart- und Automatenstores an Sonntagen“, erklärte Peter Achten, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes NRW, in einer Stellungnahme für eine Expertenanhörung in der kommenden Woche im Düsseldorfer Landtag.
Nach derzeitiger Gesetzeslage dürfen Geschäfte in NRW an bis zu acht Sonntagen im Jahr öffnen. Ausnahmen gelten für Bäckereien, Blumenläden und touristische Shops. Die Öffnung des „normalen“ Einzelhandels muss derweil an größere Veranstaltungen wie Märkte oder Festivals gekoppelt bleiben.
Dieser sogenannte Anlassbezug ist immer wieder Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen. Mehrfach musste in der Vergangenheit das Oberverwaltungsgericht die bereits von der jeweiligen Kommune genehmigten Sonntagsöffnungen widerrufen, weil die Veranstaltung das öffentliche Bild prägen müsse und nicht die Ladenöffnung selbst. Juristisch gestritten wurde etwa um die Frage, inwieweit sich große Handelshäuser eigene Märkte und Feste als „Anlass“ kreieren dürfen.
Personalfreie Automatenstores drängen spürbar in den NRW-Markt
Anders als in anderen Bundesländern gelten die insbesondere von Gewerkschaften und Kirchen eisern verteidigten Sonntagsrestriktionen bislang auch für personalfreie Automatenstores, die nach Einschätzung der Industrie- und Handelskammer (IHK NRW), „zunehmend in NRW auf den Markt drängen“. Diese setzten oft auf Sonntagsöffnungen, stünden jedoch vor denselben Hindernissen, so die IHK. Zuletzt hatte Hessen solchen vollautomatisierten Geschäften die Sonntagsöffnung per Gesetzesänderung ausdrücklich erlaubt.
Die Sonntagsdebatte flammt auch deshalb neu auf, weil selbst einst blühende Innenstädte inzwischen traurige Leerstands-Meilen geworden sind. Laut IHK-Konjunkturumfrage bewertet jeder dritte Einzelhändler in NRW seine Geschäftslage aktuell als schlecht. Online-Konkurrenz sowie ein radikal verändertes Konsum- und Freizeitverhalten vieler potenzieller Kunden setzen ihnen zu. „Vielerorts ist eine grundlegende Neuausrichtung der Zentren notwendig“, so das Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS) in seiner Stellungnahme für die Anhörung.
Im stationären NRW-Einzelhandel arbeiten noch immer über 750.000 Beschäftigte
Der Landtag sucht nach Wegen aus der drohenden Verödung, schon weil es sich noch immer um einen gewichtigen Wirtschaftszweig handelt. Der nordrhein-westfälische Einzelhandel erwirtschaftet pro Jahr rund 100 Milliarden Euro und damit knapp ein Viertel des gesamten deutschen Einzelhandelsumsatzes. Im stationären Einzelhandel in NRW arbeiten noch immer über 750.000 Beschäftigte in mehr als 100.000 Geschäften.
Kann mehr Flexibilität bei der Sonntagsöffnung helfen? „Nicht die Anzahl der Öffnungen ist entscheidend, sondern klar definierte, verlässliche Termine, die eine bessere Vorbereitung ermöglichen“, so die IHK. Da verkaufsoffene Sonntage immer wieder beklagt werden und die Rechtslage kompliziert ist, verpufft häufig der Werbeeffekt für die City.
Dabei gehe es den Händlern am Sonntag „weniger um Mehrumsätze als darum, Einkaufsbereiche zu präsentieren und neue Kunden zu gewinnen“, so die IHK. Neidvoll schaut man Sonntag auf die vollen NRW-Autobahnen Richtung Niederlande, wo es ein sehr liberales Ladenöffnungsgesetz gibt. Unverkennbar ist, dass sich der Sonntag immer mehr als Familien- und Shoppingtag durchsetzt.
Die Sortiment-Breite lockt nicht mehr in die großen NRW-Einkaufsstädte
Die Landesregierung müsse „pragmatische Regelungen schaffen und Kommunen und ihre lokale Wirtschaft unterstützen, unter anderem durch die Sensibilisierung für die Relevanz des Themas“, fordert die IHK. Eine Bundesratsinitiative könne helfen, um bundeseinheitliche Vorgaben zu schaffen.
Wer die Experteneinschätzungen zur Lage des Einzelhandels in NRW liest, bekommt ein Gefühl für die Gleichzeitigkeit vieler Entwicklungen, die in den vergangenen 25 Jahren einen ungeheuren Strukturwandel in Gang gesetzt haben. Jene Sortiment-Breite, für die viele NRW-Bürger mal einen ganzen Tag in Einkaufsstädten wie Köln, Essen oder Düsseldorf verbracht haben, findet heute jeder in Minutenschnelle im Internet. Die Nahversorgung mit Waren des täglichen Bedarfs ist hingegen innerhalb der eigenen Stadt auf die grüne Wiese gewandert.
Die Lokalpolitik braucht man für diese Flächenausweisungen in Randlagen gar nicht groß zu kritisieren: Moderne Konsumtempel mit Fußballfeld-großen Parkflächen passen selten in gewachsene Innenstadt-Strukturen. Und wenn Stadt A die Flächenausweisung verweigert, macht Stadt B halt das Geschäft. Was bleibt dann perspektivisch noch für die klassische City-Lage?
„Der Einzelhandel war bislang die dominierende Funktion in vielen Haupt- und Nebenzentren, er zog die Menschen in die Innenstädte und funktionierte als ihr wirtschaftlicher Motor. Im Vergleich zu früheren Zeiten gilt jedoch: Die Zukunftsperspektiven des stationären Einzelhandels hängen mittlerweile stärker von anderen Nutzungen im Umfeld und einer hohen Aufenthaltsqualität ab“, heißt es im Papier des Instituts für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS). Das heißt: Die Leute sind sehr wohl bereit, wieder in die Innenstadt zu kommen, aber nur, wenn sie dort etwas sehen, erleben und sich wohlfühlen. Und am besten dann, wann sie Zeit und Lust dazu haben.
Das Land kann diese Gesichtsveränderung der Einkaufspassagen offenbar allenfalls durch erleichterte Genehmigungen für Umbauten und Neunutzungen unterstützen. Gleichwohl muss der Bewusstseinswandel auch die Besitzer der Geschäftsimmobilien erreichen. „Die Entwicklung neuer Konzepte scheitert häufig an unrealistischen Mietvorstellungen. Spitzenmieten, die aus Zeiten hoher Einzelhandelsumsätze stammen, stehen im Widerspruch zur aktuellen Marktlage und den Renditeerwartungen des Einzelhandels“, urteilt etwa die „Business Metropole Ruhr“ (BMR).