Berlin. Der designierte ukrainische UN-Botschafter Andrij Melnyk fordert ein europäisches Verteidigungsprogramm – und setzt auf einen Kanzler Merz.
Er gehörte zu den unermüdlichsten Mahnern nach mehr und schnelleren Waffenlieferungen an die Ukraine: Von 2015 bis 2022 war Andrij Melnyk Botschafter des angegriffenen Landes in Deutschland, ehe er stellvertretender Außenminister und dann ukrainischer Botschafter in Brasilien wurde. Nun soll der 49-Jährige UN-Botschafter werden. Wir erreichen ihn per Videotelefonat in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia kurz vor seiner Reise nach Kiew zum Gespräch. Welche gewaltige Summe er von den EU-Ländern nun für Sicherheitsausgaben fordert – und warum er die Grünen mit Robert Habeck als „idealen Partner“ eines „künftigen Kanzlers“ Friedrich Merz sieht.
Herr Botschafter, Ihr Arbeitsplatz ist bald in New York. Haben Sie Angst vor Donald Trump?
Andrij Melnyk: Ganz im Gegenteil. Ich freue mich auf enge Zusammenarbeit mit Elise Stefanik, die von Donald Trump als US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen nominiert wurde. Frau Stefanik ist eine sehr einflussreiche Abgeordnete im Repräsentantenhaus und hat einen direkten Draht zu Präsident Trump.
Trump will die militärische Unterstützung für die Ukraine drastisch reduzieren, wenn nicht gar auf null fahren. Befürchten Sie nicht, dass damit die Niederlage gegen Russland besiegelt ist?
Melnyk: Ich glaube nicht an dieses düstere Szenario. Für mich ist allerdings besonders wichtig, dass die Europäer mehr in den Vordergrund treten. Ich würde mir wünschen, dass ein – laut den derzeitigen Umfragen – neuer Bundeskanzler Friedrich Merz schon jetzt, mitten im Wahlkampf, sowie andere europäische Staats- und Regierungschefs klipp und klar sagen: Auch Europas Sicherheit wird durch den Russland-Krieg massiv bedroht. Deshalb werden Deutschland und die EU nicht nur der Ukraine noch viel stärker mit Waffen unter die Arme greifen, egal wie die Amerikaner sich entscheiden.
Sie fordern also deutlich mehr Geld?
Melnyk: Der künftige Kanzler sollte im Rahmen eines ‚europäischen Verteidigungsprogramms 2035‘ ein großes gemeinsames Aufrüstungsprojekt auf die Beine stellen mit einem Volumen von vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts, also 680 Milliarden Euro pro Jahr. Der russische Verteidigungsminister hat Moskau auf einen Krieg mit der Nato innerhalb von zehn Jahren eingeschworen. Diese Kriegsgefahr muss man in Berlin ernst nehmen.
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Könnten die Europäer einen Wegfall von Amerikas Militärhilfe für die Ukraine kompensieren?
Melnyk: Oh ja, mit einer Wirtschaftsleistung von 17,1 Billionen Euro ist die EU durchaus in der Lage, das aufzufangen. Die Europäer müssen viel mehr für ihre eigene Sicherheit sorgen. Trump fordert zurecht, dass die Nato-Staaten sogar fünf Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für die eigene Verteidigung ausgeben. Vier Prozent wären daher schon ein riesiger Fortschritt im Vergleich zu heute.
„Eins ist klar: Die Nato-Mitgliedschaft bleibt für die Ukraine auf dem Tisch.“
Sehen Sie hierfür mit einem Kanzler Friedrich Merz größere Chancen als mit einem Kanzler Olaf Scholz?
Melnyk: Persönlich traue ich Friedrich Merz, den ich gut kenne, diesen großen Wurf zu. Die Frage ist, ob der Koalitionspartner, mit dem er regieren wird, dies zulässt. Wenn es eine Große Koalition sein sollte, befürchte ich, dass die ‚Friedenspartei SPD‘ dies blockiert. Gerade deswegen wären die Grünen mit Robert Habeck aus meiner Sicht ein idealer Partner. Ich würde mir wünschen, dass der CDU-Chef bereits heute im Wahlkampf offensiv für ein ambitioniertes europäisches Verteidigungsprogramm wie auch für die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern eintritt, ohne dies mit der Zustimmung eines möglichen Koalitionspartners zu verknüpfen. Der künftige Kanzler sollte sich klarer positionieren.
Wenn die Ukraine auf absehbare Zeit kein Nato-Mitglied werden kann: Welche Sicherheitsgarantien fordern Sie und durch wen?
Melnyk: Eins ist klar: Die Nato-Mitgliedschaft bleibt für die Ukraine auf dem Tisch. Dennoch ist die Frage der Sicherheitsgarantien für uns als Zwischenlösung von zentraler Bedeutung. Diese müssten aber über rein politische Versprechungen wie beim Budapester Memorandum 1994 hinausgehen. Unsere Partner müssten akribisch aufschreiben, mit welchen militärischen Mitteln sie zur Hilfe eilen, um die Ukraine verteidigen, sollte sie von Russland wieder angegriffen werden.
Was bedeuten Sicherheitsgarantien konkret: Handelt es sich um einen bilateralen Vertrag zwischen Kiew und Ländern wie Deutschland oder Frankreich? Oder ist es ein multilateraler Vertrag mit den europäischen Nato-Partnern?
Melnyk: Sowohl bilaterale als auch mulilaterale Verträge sind denkbar. Was wir brauchen, sind völkerrechtlich bindende, hieb- und stichfeste Verteidigungszusagen unserer westlichen Verbündeten für den Fall, dass die Ukraine von Russland erneut bedroht oder attackiert wird. Diese könnten auch Teil eines möglichen großen Friedensvertrages mit Russland sein.
Ihr Nachfolger als Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev, soll ersetzt werden. Ihre scharfe Kritik an Makeiev habe zu dem Wechsel beigetragen, schreiben ukrainische Medien. Stimmt das?
Melnyk: Diese Spekulationen weise ich zurück. Zwar stehe ich zu der sachlichen Kritik, die ich in der Vergangenheit geäußert habe. Aber in die Entscheidung der Botschafter-Rotation war ich zu keinem Zeitpunkt involviert. Nie habe ich mit dem Präsidenten sowie mit dem alten oder neuen Außenminister über meinen Nachfolger in Deutschland gesprochen. Niemand hat meinen Rat in dieser Frage gesucht. Es war daher bitter zu lesen, dass ich beschuldigt wurde, gegen Makeiev intrigiert zu haben. Das ist eine reine Verschwörungstheorie.
Deutschland ist mittlerweile nach den USA der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine. Hat Kanzler Scholz die Kurve gekriegt?
Melnyk: Deutschland hat im Vergleich zum Beginn des Krieges einen Riesensprung gemacht. Das gesamte Hilfsvolumen ist eine beachtliche milliardenschwere Summe. Den Deutschen gebührt dafür der ewige Dank der Ukrainer. Man muss allerdings klar differenzieren: Was waren geleistete, was waren zugesagte Waffenlieferungen? Und wie hoch war die Unterstützung für Geflüchtete? Bei allem Lob für die Bundesregierung lautet die Schlüsselfrage: Ist diese Hilfe ausreichend, um den Andrang der Russen zu stoppen und sie zu vertreiben? Leider ist die Antwort Nein.
Wo sehen Sie Nachholbedarf?
Melnyk: Die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern bleibt auf der Tagesordnung, auch wenn diese Waffengattung kein ‚Game Changer‘ sein wird. Viel gravierender scheint: Im Jahr 2025 wird die deutsche Waffenhilfe aus Haushaltsmitteln von acht auf vier Milliarden Euro halbiert. Auch danach sinkt die militärische Unterstützung aus Berlin kontinuierlich. Für 2028 sieht die Haushaltsplanung nur noch 500 Millionen Euro vor. Das ist ein krasser Widerspruch zum Selbstlob des Kanzlers. Diese Entscheidung muss daher weg.
Deutschland wählt am 23. Februar ein neues Parlament. Was erhoffen Sie sich von der neuen Bundesregierung?
Melnyk: Ich erwarte von der neuen Bundesregierung, dass die Militärhilfe für die Ukraine im Koalitionsvertrag auf eine stabile Basis gestellt wird. Die künftige Koalition sollte für die nächsten vier Jahre mindestens 80 Milliarden Euro einplanen, also 20 Milliarden Euro pro Jahr. Das wäre eine gewinnbringende Investition auch für Deutschlands Sicherheit. Außerdem wäre das ein Signal der Stärke an Trump, an die Europäer und vor allem an Putin.“
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