Essen. Kanzlerkandidat Merz wird von der NRW-CDU fast einstimmig für die Bundestagswahl nominiert. Sein Programmentwurf hat es in sich.

Am Ende steigt Friedrich Merz auf einen Stuhl und winkt den rund 250 applaudierenden Delegierten im Essener Kongresszentrum freundlich zu. Doch für ein wohliges Bad in der Menge ist der Kanzlerkandidat der Union erkennbar nicht zu dieser Landesvertreterversammlung der NRW-CDU gekommen, die ihn später mit 99,6 Prozent zur Nummer eins der Landesliste für die Bundestagswahl küren wird.

Vielmehr nutzt Merz seinen 40-minütigen Redeauftritt am Samstagvormittag im Ruhrgebiet für eine zackige Gardinenpredigt. Der CDU-Vorsitzende skizziert, mit welchem Wahlprogramm er die Union in die vorgezogene Bundestagswahl am 23. Februar führen will und macht deutlich, dass sich bitte niemand Illusionen über die bevorstehende schwarz-rot-goldene Rosskur machen soll. Beschlossen wird der Text offiziell am Dienstag mit der CSU.

„Das alles werden keine bequemen oder gar gefälligen Zusagen. Wir stehen vor einer gewaltigen Kraftanstrengung“, schwört Merz die Partei ein. „Ich stehe nicht vor Ihnen, um noch einmal im etwas höheren Lebensalter irgendeine Karriere zu machen“, versichert der 69-jährige Sauerländer. „Ich stehe vor Ihnen, weil ich von der tiefen Sorge jeden Tag, wenn ich aufstehe, umgetrieben werde, dass wir unseren Kindern und Enkelkindern ein Land hinterlassen, in dem sie nicht nur in Wohlstand und mit sozialer Gerechtigkeit leben können, sondern vor allem in Frieden und Freiheit.“

Merz verspricht „Paradigmenwechsel in der Energiepolitik“

Merz tritt an, um „diesen Zirkus“ in Berlin zu beenden. Minutenlang schimpft er am Rednerpult. In der Bundesregierung sieht er „Egomanen unterwegs“. SPD-Kanzler Olaf Scholz („isoliert“, „gleichgültig“, „desinteressiert“) habe das Ansehen Deutschlands auf den Tiefpunkt in 75 Jahren Bundesrepublik gewirtschaftet. Anders als der „literarisch orientierte Bundeswirtschaftsminister“ Robert Habeck (Grüne) es hinbekommen hat, will er einen „Paradigmenwechsel in der Energiepolitik“ herbeiführen. Es werde kein Kraftwerk mehr abgeschaltet, bevor nicht eine Ersatzstromquelle am Netz sei, verspricht Merz.

Die CDU in Nordrhein-Westfalen setzt im Bundestagswahlkampf voll auf Bundesparteichef Friedrich Merz. 
Die CDU in Nordrhein-Westfalen setzt im Bundestagswahlkampf voll auf Bundesparteichef Friedrich Merz.  © AFP | Ina Fassbender

In der Migrationspolitik sollen ganz andere Saiten aufgezogen werden: „Wir werden nicht mehr hinten sein, sondern wir werden vorne sein, wenn es um gemeinsame europäische Lösungen bei der Begrenzung der illegalen Migration geht.“ Das Bürgergeld? Wird abgeschafft. Merz verheißt steuerliche Entlastungen für Unternehmen und Mittelschicht. Außerdem soll für jedes Kind in Deutschland ein Kapitalstock von 2000 Euro auf einem staatlichen „Alterssparkonto“ angelegt werden. Bei den milliardenschweren Altschulden soll den Kommunen insbesondere im Ruhrgebiet von einem CDU-Kanzler endlich geholfen werden.

Wie das alles bezahlt werden könnte? Unklar. Merz will „alles, aber auch alles“ der Zurückerlangung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit unterordnen. Ob das, gepaart mit den Einsparungen beim Bürgergeld, kurzfristig ausreichend Geld in die öffentlichen Kassen spült? Eine Reform der Schuldenbremse, die in vielen CDU-Landesverbänden bereits konkret durchgespielt wird, spricht Merz lieber nicht mehr an. Das ist aus Unionssicht vermintes Gelände.

Offen bleibt auch, mit wem Merz eigentlich regieren will. Wunschpartner FDP? Bei drei Prozent in den Umfragen. Parallel zur Essener Versammlung bekräftigt CSU-Chef Markus Söder vor seinen Delegierten in München noch einmal das klare, unmissversändliche Nein zu Schwarz-Grün.

Merz verspricht: „Wir wollen Eure Kinder nicht in einen Krieg schicken“

Der Scholz-SPD wiederum unterstellt Merz einen „Angstwahlkampf“ mit Unwahrheiten um Rente und Krieg, inklusive der härtesten Auseinandersetzung aller Zeiten mit persönlichen Angriffen auf ihn selbst. Da dürften für eine Neuauflage für Schwarz-Rot nach dem 23. Februar also ebenfalls erhebliche Reparaturarbeiten vonnöten sein. 

Es schimmert im Essener Kongresszentrum unausgesprochen durch, wovor sich die Union am meisten fürchtet: vor der Dominanz des Ukraine-Krieges in der Wahlauseinandersetzung. Nach dem Hin und Her um Taurus-Lieferungen macht Merz sogar das, wovor der verstorbene NRW-Stratege Peter Hintze immer warnte: Er jagt eine „schwarze Katze“ nach der anderen durchs Bild, indem er sagt, was er alles nicht will im Umgang mit Putin - und zeigt dem Publikum damit ungewollt erst die furchteinflößende Möglichkeit auf. „Wir wollen Eure Kinder nicht in einen Krieg schicken“, versichert er Deutschlands Eltern. „Aber wir wollen verteidigungsfähig werden, damit wir uns nicht verteidigen müssen.“

Landesvertreterversammlung CDU Nordrhein-Westfalen
Als dreifacher Kandidat startet Merz in den Bundestagswahlkampf: Kanzlerkandidat der Union ist er schon, Direktkandidat im Hochsauerland auch. Nun ist er auch über die NRW-Landesliste abgesichert. © DPA Images | Thomas Banneyer

Hoffentlich hören die Leute am Ende nicht nur „Kinder in den Krieg schicken“, mag sich mancher von den Delegierten in Essen denken. NRW-Ministerpräsident und CDU-Landeschef Hendrik Wüst intoniert seine Rede freundlicher, weniger dramatisch, aber er spielt halt auch nur noch eine Nebenrolle. „Du stehst für das, was Deutschland gerade braucht: Klarheit und Verlässlichkeit“, rollt er Merz den rhetorisch den roten Teppich aus.

Sein Landesverband habe sich als „erstes hinter Merz gestellt“, flötet Wüst. Die NRW-CDU werde „an jedem einzelnen Tag“ bis zur Bundestagswahl dem Kanzlerkandidaten den Rücken stärken. Fast könnte man vergessen, dass Wüst mit dem monatelangen Kokettieren in der K-Frage dem „lieben Friedrich“ das Leben lange ziemlich schwer machte.

Längst geht es Wüst aber augenscheinlich darum, seine Rolle als „1B“ der Union hervorzukehren und den selbstbewussten bayerischen Amtskollegen Söder ein wenig zu stutzen. „Die CDU Nordrhein-Westfalens ist das Kraftzentrum der CDU Deutschlands“, sagt Wüst und erlaubt sich den vergifteten Hinweis, dass man bei der Europawahl 2,6 Millionen Stimmen, also 100.000 mehr als die CSU aus Bayern, zum Gesamtergebnis der Union beigesteuert habe.

„Geschlossenheit ist das A und O“, ruft Wüst in prasselnden Applaus und erinnert an den Bundestagswahlkampf 2021, als Söder querschoss. In der ersten Reihe sitzt Armin Laschet, den der CSU-Chef nach Kräften sabotierte. Läuft es diesmal besser?

Es gibt aber durchaus auch Programmwünsche aus NRW an einen Kanzler Merz. Wüst will eine schnelle Einigung auf die sogenannte Verkehrsdatenspeicherung: „Die Sicherheitsbehörden brauchen Zugriff auf die Kommunikation auf den Handys von Terroristen und Kinderschändern.“

Auch eine neue Kraftwerksstrategie des Bundes sei notwendig, um die energieintensive Industrie in NRW schnell zu entlasten: „Ja, natürlich auch sauber, aber wir müssen jetzt auch wieder darauf achten, dass es bezahlbar bleibt“, findet Wüst, der wohl weiß, dass man dafür die Grünen zu einer deutlichen Kurskorrektur in der Nach-Habeck-Ära bewegen müsste.