Essen. Das war ein toller Move von Hendrik Wüst, wie er Friedrich Merz zum Kanzlerkandidaten gekrönt hat. Eine weitere K-Frage aber ist offen.
Wenn meine Kinder am Samstagvormittag fragen, ob wir am Abend noch schwimmen gehen, dann sage ich gerne „Ja“, um nach einem kurzen Blick auf die Uhr schnell hinzuzufügen: „Stand jetzt, 11.30 Uhr.“ Der Effekt ist: Die Kleinen sind erstmal glücklich, und ich habe mir eine Hintertür offen gehalten für den Fall, dass ich am Abend doch nicht mehr vom Sofa runter möchte. So ähnlich hat es Friedrich Merz jetzt mit Markus Söder gemacht.
Dadurch, dass der CSU-Chef eine Koalition der Unionsparteien mit den Grünen auf Bundesebene kategorisch ausschließt, will er die große Schwesterpartei CDU und ihren Vorsitzenden Merz zugleich einmauern. So etwas gehört seit jeher zu den Machtspielchen der aufgeblasenen bayerischen Landesfürsten. Söder ist in dieser Disziplin ein Meister. Doch diesmal hat er die Rechnung ohne den designierten Kanzlerkandidaten gemacht. Merz lehnte eine Koalition mit den Grünen zwar nun auch demonstrativ ab, um keinen offenen Streit mit der CSU vom Zaun zu brechen und die eigene Anhängerschaft, deren Abneigung gegen die Grünen wächst und wächst, nicht zu enttäuschen. Zugleich schränkte er die Aussage aber ein mit den Worten: „aus heutiger Sicht“. Die Hintertür also für Schwarz-Grün: Sie steht auf, und das ist auch richtig und wichtig so.
Koalitionsfrage muss offen bleiben
Denn tatsächlich hat die Union nur eine von zwei K-Fragen gelöst. Wer Kanzlerkandidat der Union wird, ist jetzt klar. Indem NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst, zugleich Chef des großen CDU-Landesverbands, scheinbar generös auf eigene Kanzlerambitionen medienwirksam (vorerst!) verzichtet hat, krönte er Merz de facto zum Scholz-Herausforderer. Söder hatte keine Chance mehr. Die zweite K-Frage aber, die Koalitionsfrage, kann aus machtpolitischen Gründen derzeit gar nicht beantwortet werden.
Auf der Hand liegt: Je nach Abschneiden von AfD und BSW bei einer Bundestagswahl sind die Grünen unter Umständen faktisch unverzichtbar für eine Merz-Mehrheit im Bundestag. Mindestens so wichtig aber ist, dass es trotz des offenkundigen Rechtsrucks in der Gesellschaft inklusive der Unionsparteien noch keine endgültige Richtungsentscheidung in der CDU gibt. Wüst steht trotz der auch von ihm unterstützten radikalen Wende in der Migrationspolitik weiter für einen pragmatischen Kurs der Mitte. Er steht weiter für Schwarz-Grün, und damit steht er in der Union nicht allein. Denn Schwarz-Grün ist viel mehr als ein, wie es oft so schön heißt, „geräuschloses“ Zweck-Bündnis in NRW oder auch Schleswig-Holstein.
Nathanael Liminski, einer der wichtigsten Vordenker der CDU mit Sitz in der NRW-Staatskanzlei, verweist auf die bürgerlichen Wurzeln beider Parteien und findet: „Uns verbinden Idealismus, Ernsthaftigkeit und die Ambition, diese Welt nicht nur zu verwalten, sondern wirklich zum Besseren zu gestalten.“ Das ist im Kontext parteipolitischer Konkurrenz schon fast so etwas wie eine Liebeserklärung. Auf seinem noch langen Weg zur Kanzlerschaft kann Friedrich Merz so etwas nicht ignorieren. Er muss beachten, dass sich neben Berlin und München ein weiteres Machtzentrum in der Union fest etabliert hat: Düsseldorf. Und das Machtzentrum am Rhein ist durch den vordergründigen Verzicht Wüsts nicht schwächer geworden, sondern stärker.
Wahlen werden in der Mitte gewonnen. Das weiß im Prinzip auch Friedrich Merz. Wenn er sagt, dass er die Migrationspolitik aus dem Bundestagswahlkampf heraushalten und vorher lösen will, weil das sonst nur die undemokratischen Ränder stärkt, dann darf man ihm das abnehmen. Die Frage ist nur, ob er in der Hitze der politischen Auseinandersetzung so ruhig und kontrolliert agieren kann wie ein Hendrik Wüst – oder ob er nicht doch irgendwann wieder von „Paschakindern“ spricht oder von Flüchtlingen, die Wartezimmer beim Arzt verstopfen.
Ungebetene Ratschläge via „Spiegel“
Zu groß war denn auch die Versuchung, Merz jetzt noch einmal ein paar ungebetene Ratschläge aus Düsseldorf mitzugeben. In einem großen „Spiegel“-Interview äußert Wüst, freundlich verpackt und ohne Merz direkt beim Namen zu nennen, eine in der Sache doch deutliche Stilkritik. Es gehe „nicht darum, immer draufzuhauen oder das Land schlechtzureden – manchmal vielleicht sogar schlechter, als es ist“, ist da zu lesen. CDU und CSU als „Regierung im Wartestand“ hätten die Verantwortung, die Extremisten durch übertriebene Schwarzmalerei nicht noch stärker zu machen. Schon vor gut einem Jahr hatte Wüst den CDU-Chef mit einem großen Interview, damals in der „FAZ“, massiv geärgert, als er eine „Politik mit dem Herzschlag der Mitte“ anmahnte. Die Botschaft ist: Mit Wüst muss Merz immer rechnen.
Mit seinen 49 Jahren kann sich der souveräne Kandidaten-Macher vom Rhein das Schauspiel in Berlin nun befreit ansehen. Wüst gehört weiter zur Top-Führungsreserve der CDU, ist so etwas wie ein vom König wenig geliebter Kronprinz, dessen Zeit kommen wird. Dass ein NRW-Ministerpräsident immer auch Kanzler kann, können muss, hat er nicht vergessen zu erwähnen, als er Platz machte für Merz und sich so zugleich an Söder dafür rächte, wie er den CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet einst fertig gemacht hatte mit seinen sabotageartigen Angriffen im Bundestagswahlkampf. Das werden sie nie vergessen in NRW und in der gesamten CDU. Wenn Söder ganz am Ende der Loyalitätsskala steht, steht Wüst jetzt – zumindest in weiten Teilen der Basis – ganz oben. Das hat einen eigenen Wert bei den Christdemokraten, mehr als in jeder anderen Partei.
In der Ruhe liegt die Kraft. Für Wüst wird es in den kommenden Monaten und Jahren darauf ankommen, Schwarz-Grün weiter als Vorzeige-Koalition zu präsentieren, als Blaupause für den Bund, die im Gegensatz zur Berliner Ampel Streit intern löst und nicht auf offener Bühne austrägt. Leicht wird das nicht.
Die Grünen zerreißt es
Nach Solingen und den AfD-Erfolgen bei den Landtagswahlen im Osten zerreißt es vor allem die Grünen. Die einen hassen sie, weil sie auf den Klimawandel hinweisen, was liebgewonnene Gewohnheiten bedroht. Die anderen beginnen sie zu verachten, weil sie in der Asylpolitik nicht prinzipientreu bleiben, nicht bleiben können. Wenn die Koalition in Düsseldorf ein großes „Sicherheitspaket“ schnürt, zu dem gehört, dass ausreisepflichtige Asylbewerber bis zur Abschiebung in Aufnahmeeinrichtungen des Landes bleiben müssen, statt in den Kommunen verteilt zu werden, dann reibt sich ob dieses radikalen Sinneswandels so mancher Anhänger der Grünen die Augen. Und dass wichtige grüne Regierungsmitglieder wie Flüchtlingsministerin Paul und Justizminister Limbach erheblich angeschlagen sind, macht es auch nicht einfacher, die Koalition „geräuschlos“ zusammenzuhalten.
Zum Glück kann Wüst dabei auf sein Erfolgsrezept zurückgreifen: eine Mischung aus handwerklicher Kontrolliertheit und inhaltlicher Flexibilität, wie es das Autorenduo Tobias Blasius (WAZ-Korrespondent) und Moritz Küpper (Deutschlandfunk) in seinem Buch „Hendrik Wüst: Der Machtwandler“, erschienen im Klartext-Verlag, beschrieben hat.
Kann Wüst Kanzler?
Ein Wandlungskünstler – das ist er schon, der Wüst. Das Nassforsche, kompromisslos Konservative von früher ist einer staatsmännischen Sanftheit gewichen. Wenn jemand Kinder bekommt, so heißt es, werden Harte ganz weich. Wer den Familienvater Wüst im persönlichen Gespräch erlebt, der sieht einen sympathisch nahbaren, nachdenklichen, Wärme ausstrahlenden Menschen, keinen Haudrauf. Einen künftigen Kanzler zum Liebhaben?
Auf bald.
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