Paris. Die französische Rechtspopulistin könnte bald ihre Wählbarkeit verlieren. Droht sie deshalb mit dem Sturz der aktuellen Regierung?
Die Wetten sind offen: Wann wird die Minderheitsregierung von Michel Barnier zu Fall kommen? Freund und Feind geben sich dem Ratespiel hin; Linkenchef Jean-Luc Mélenchon rechnet zum Beispiel mit einem Sturz „zwischen dem 15. und 21. Dezember“. Staatspräsident Emmanuel Macron schätzte im Wintergarten des Elysée-Palastes: „Eher früher als später.“
Die anwesenden Journalisten staunten: Premier Barnier ist schließlich Macrons Schöpfung. Seit Anfang September führt der Altgaullist die Regierung mehr schlecht als recht an den Fallstricken und Tretminen der Pariser Politik vorbei. Seine Allianz aus Republikanern und Macrons Mitte-Lager kommt in der 577-köpfigen Nationalversammlung nur auf 211 Stimmen. Bisher überlebte sie, weil das rechte Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen sie duldete. Der Haushaltentwurf könnte nun aber Barniers vorzeitiges Ende bringen.
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Frankreich: Premier Barnier plant unpopuläre Maßnahmen
Um das Budgetdefizit nicht ausufern zu lassen, will der 73-jährige Premier auch die Stromsteuer erhöhen und den Teuerungsausgleich der Renten teilweise aufschieben. Das würde die „kleinen Leute“ treffen, zumeist RN-Wähler. Le Pen erklärte deshalb, Barnier habe mit diesen Sparmaßnahmen eine „rote Linie“ überschritten. Wenn der Premier anfangs Dezember zum Verfassungskniff des Artikels 49.3 greifen und den Haushalt damit ohne Abstimmung durchdrücken sollte, will Le Pen einen Misstrauensantrag der Linken mittragen. Zusammen kommen sie auf über 300 Stimmen, also die absolute Mehrheit.
Der Politologe Alain Duhamel interpretiert Le Pens Drohung so: Sie dränge sich in den Mittelpunkt der französischen Politik, um klarzumachen, dass an ihr kein Weg vorbeiführe. Denn über ihr hängt ebenfalls ein Damoklesschwert. Am Mittwoch ist der Prozess wegen Veruntreuung von EU-Geldern unter anderem durch Le Pen zu Ende gegangen, und die Beweise sind erdrückend.
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Die Staatsanwaltschaft verlangt deshalb für Le Pen eine Haftstrafe – und vor allem eine mindestens fünfjährige Unwählbarkeit. Damit könnte die RN-Gründerin bei den Präsidentschaftswahlen von 2027 nicht antreten. Ihr vierter und wohl chancenreichster Anlauf in den Elysée-Palast wäre damit brutal gestoppt.
Marine Le Pen inszeniert sich als unverzichtbare Politdirigentin
Auch politische Gegner wie Gérald Darmanin oder François Bayrou erklärten, es liege nicht an drei Richtern, den wichtigsten Urnengang der Republik zu beeinflussen. Also inszeniert sich Le Pen als unverzichtbare Politdirigentin, die über Sein oder Nichtsein einer bürgerlichen Regierung befinden kann. In der Annahme, dass ihre Unwählbarkeit damit als umso stoßender empfunden wird.
Das Urteil wird erst im kommenden Februar erwartet. Dann könnte die Regierung Barnier schon Vergangenheit sein. Der Premier versucht derzeit noch in einem verzweifelten Unterfangen, die Sozialisten aus der oppositionellen „Linksfront“ zu lösen und ins Regierungslager zu holen, um sich eine Mehrheit zu verschaffen.
In diesem Fall könnte Macron aber Barnier ohne Skrupel opfern und ihn durch einen gemäßigt sozialistischen Premier wie Bernard Cazeneuve oder François Hollande ersetzen. Denn nicht zu vergessen: Nachdem er sich die Regierungskrise mit der unüberlegten Ansetzung von Neuwahlen im Juni selber eingebrockt hatte, kämpft der angeschlagene Präsident selber um das politische Überleben.
Frankreich: Barnier warnt eindrücklich vor Regierungssturz
Würde er seine eigene Regierung demontieren, käme Frankreich nicht mehr zur Ruhe. Barnier warnte am Mittwochabend in einem TV-Interview selber vor den Folgen eines Regierungssturzes. In deutlicher Anspielung an einen „Shutdown“ wie in den USA warnte der Premier, die Beamtenlöhne könnten in Frankreich nicht mehr wie üblich ausbezahlt werden, wenn der von seiner Regierung vorgelegte Staatshaushalt nicht bald genehmigt werde.
Auch für die EU sieht Barnier schwarz: Wegen der rekordhohen französischen Staatsschuld von weit über 3000 Milliarden Euro und einem chronischen Budgetdefizit von mehr als sechs Prozent will der Premier ein „griechisches Szenario“ für Frankreich mit einer europaweiten Finanzkrise nicht ausschließen. Obschon er die Lage bewusst dramatisiert, um seinen Posten zu retten, wachsen in Brüssel die Sorgen. Denn mit Frankreich sackt nach Deutschland auch das zweite Schwergewicht des Euroraums in ein Machtvakuum, das nicht so schnell ausgestanden sein wird. Rettende Neuwahlen sind in Paris aus Verfassungsgründen nicht vor nächstem Juni möglich.