Berlin. Nach dem Kursschwenk der USA: Liefert Deutschland nun doch den Taurus? Ein Experte erklärt, welche Eskalations-Optionen Russland hat.
Diplomatischer Erfolg für die Ukraine im Krieg mit Russland: Kiew erhält nach langem Drängen jetzt doch die Erlaubnis, mit westlichen Waffen Ziele auf russischem Gebiet anzugreifen. Die US-Regierung von Präsident Joe Biden gibt unter dem Eindruck der verstärkten Angriffe auf die Ukraine offenbar ihre Zurückhaltung auf, die ukrainische Armee darf ATACMS-Raketen gegen Ziele in Russland richten. Und das, obwohl der russische Machthaber Wladimir Putin bereits gewarnt hatte, in einem solchen Fall wäre die Nato „im Krieg mit Russland“. Wir erläutern, warum Biden den Kurswechsel vorgenommen hat – und welche Risiken der Schritt birgt.
Was genau macht Biden jetzt möglich?
Laut übereinstimmenden Berichten von US-Medien erlauben die USA der Ukraine nun, amerikanische Raketen mit größerer Reichweite für Angriffe gegen bestimmte Ziele tief in russischem Territorium einzusetzen. Es handelt sich um Waffen vom Typ ATACMS. Die Abkürzung steht für „Army Tactical Missile Systems“. Die Raketen haben eine Reichweite von etwa 300 Kilometern. Bisher gestatteten die USA und Verbündete der Ukraine nur, westliche Waffen auf russischem Territorium bei der Abwehr der Offensive gegen das ostukrainische Charkiw einzusetzen. Hierbei handelt es sich aber um andere Systeme mit deutlich geringerer Reichweite.
Warum ist diese Entscheidung jetzt gefallen?
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verlangt schon seit geraumer Zeit, dass die Verbündeten den Einsatz von gelieferten Marschflugkörpern auf russischem Territorium gestatten sollen. Die ukrainische Armee soll so in die Lage versetzt werden, russische Angriffe zu unterbinden, bevor sie überhaupt gestartet werden. Das kann etwa durch den Beschuss von russischen Luftwaffenstützpunkten geschehen.
Bidens Entschluss wurde zum Auftakt des G20-Gipfels in Brasilien bekannt, an dem auch Russland teilnimmt. Der scheidende Präsident will noch Pflöcke einschlagen, bevor im Januar Donald Trump an die Staatsspitze rückt. Zudem kommt der Beschluss zu einem Zeitpunkt, an dem russische und nordkoreanische Truppen eine Gegenoffensive in der russischen Region Kursk vorbereiten.
Das ukrainische Militär war im Sommer dort eingedrungen und hält die Gegend seitdem besetzt. Die „New York Times“ schrieb am Montag, es sei wahrscheinlich, dass die ATACMS jetzt zunächst im Gebiet um Kursk eingesetzt würden, um die ukrainischen Truppen zu unterstützen. Russlands Machthaber Wladimir Putin soll bei Kursk 50.000 russische und nordkoreanische Soldaten zusammengezogen haben. Das Gebiet könnte eine bedeutsame Verhandlungsmasse werden, falls es eines Tages zu Friedensgesprächen kommt.
Was zeichnet ATACMS aus?
Die Raketen werden mit Gefechtsköpfen bestückt, die rund 170 Kilogramm an Sprengstoff tragen. Es gibt dafür zwei Varianten: eine mit Streubomben, die vorrangig dazu dient, möglichst viele feindliche Soldaten zu töten. Und eine mit einer einzelnen Sprengladung, die möglichst große und präzise Sachschäden verursachen soll. Hersteller des Systems ist der US-Konzern Lockheed Martin, die Entwicklung der ersten Generation begann in den 1980er Jahren. Die Raketen werden von mobilen Plattformen abgefeuert. Präsident Biden hatte bereits im vergangenen Jahr zugestimmt, ATACMS an die Ukraine zu liefern. Es soll damals um mehrere Hundert Raketen gegangen sein. Die USA erlaubten aber zunächst nur, mit diesen russische Ziele in besetzten ukrainischen Gebieten anzugreifen – inklusive auf der Krim.
Was sagen die USA und was sagt die Ukraine?
Aus Washington gibt es bisher keine Bestätigung. Der ukrainische Präsident Selensykj bemerkte vielsagend: „Angriffe werden nicht mit Worten geführt.“ Er ergänzte: „Solche Dinge werden nicht angekündigt. Die Raketen werden für sich selbst sprechen.“
Und was sagt Russland?
Putins Sprecher Dmitri Peskow sagte mit Blick auf die US-Berichte: „Wenn eine solche Entscheidung tatsächlich formuliert und dem Kiewer Regime mitgeteilt wurde, hat das die Qualität einer neuen Windung der Eskalationsspirale“. Es handele sich um eine „qualitativ neue Lage hinsichtlich der Verwickelung der USA in den Konflikt“.
Was bedeutet der Beschluss für die deutsche Debatte über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern?
Die Vorgänge haben die Debatte hierzulande wieder neu entfacht. Taurus-Raketen haben eine Reichweite von bis zu 500 Kilometer, mit ihnen könnte die Ukraine auch Ziele in Moskau angreifen. Kanzler Olaf Scholz (SPD), der sich beim G20-Gipfel in Rio de Janeiro aufhält, ließ am Montag über einen Sprecher in Berlin mitteilen, dass sich seine Haltung nicht geändert habe und es keine Taurus-Lieferung geben werde.
Der Unions-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter (CDU) sagte dieser Redaktion: „Scholz wird sich im Sinne der Moskau-Connection keinen Zoll bewegen und der Ukraine nicht helfen. Das führt Deutschland weiter in die Isolation.“ Der Chef der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, forderte einen Schulterschluss Europas mit den USA. Er sagte unserer Redaktion: „Das Signal von Joe Biden ist klar: Wenn Putin massiv die Infrastruktur der Ukraine angreift, um die Menschen in einen kalten Winter zu zwingen, dann darf sich die Ukraine auch mit den gleichen Mitteln wehren.“ Die Grünen-Verteidigungexpertin Sara Nanni sagte: „Alles, was wir selber zu unserer Verteidigung nutzen würden, muss auch grundsätzlich zur Debatte stehen für die Ukraine. Ich hoffe sehr, dass der Bundeskanzler nachzieht und den Weg frei macht für Taurus-Lieferungen.“
Warum zögert Scholz weitehrin?
Der Kanzler befürchtet eine weitere Eskalation des Krieges, sollte Deutschland Taurus liefern. Er ist zu der Überzeugung gekommen, dass es auch einen Bundestagsbeschluss brauche – weil Bundeswehr-Soldaten die ukrainischen Truppen bei der Bedienung des Systems unterstützen müssten. Das könnte in Moskau als direkte Kriegsbeteiligung gewertet werden, so die Kalkulation.
Auch interessant
Darf die Ukraine überhaupt Ziele in Russland beschießen?
Ja. Völkerrechtlich sind der Ukraine im Kampf gegen die Invasoren auch Angriffe auf russisches Territorium erlaubt. Die bloße Lieferung entsprechender Waffen würde die westlichen Staaten nicht zur Kriegspartei machen.
Wie wird Moskau jetzt reagieren?
Das ist offen. Der russische Außenpolitiker Leonid Sluzki warnte vor einer „größeren Eskalation, die droht, noch weitaus ernstere Folgen nach sich zu ziehen“. Der Sicherheitsexperte Ulrich Kühn, Forschungsdirektor am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), sagte dieser Redaktion: „Putin hat schon bisher auf die kleinen Eskalationsschritte des Westens mit Maßnahmen reagiert: Dazu gehörten die Intensivierung der Luftangriffe vor allem auf die zivile Infrastruktur der Ukraine, die wiederholten rhetorischen Nukleardrohungen, aber auch Sabotageakte und andere hybride Maßnahmen gegen Ziele im Westen.“
Ob er nun mit ähnlichen Maßnahmen wie bisher antworte oder in einer neuen Form, sei unklar. „Denkbar, aber unwahrscheinlich wäre ein Angriff auf Nato-Territorium – etwa mit einem konventionellen Präzisionsschlag auf Nachschublinien für Waffenlieferungen an die Ukraine. Das wäre eine massive Eskalation“, sagte Kühn. „Möglich als extreme Eskalation wäre auch ein Atomwaffen-Test.“ Damit würde Russland aber offen gegen den Atomteststopp-Vertrag verstoßen, das hätte massive politische Folgen.
Land | Ukraine |
Kontinent | Europa |
Hauptstadt | Kiew |
Fläche | 603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim) |
Einwohner | ca. 41 Millionen |
Staatsoberhaupt | Präsident Wolodymyr Selenskyj |
Regierungschef | Ministerpräsident Denys Schmyhal |
Unabhängigkeit | 24. August 1991 (von der Sowjetunion) |
Sprache | Ukrainisch |
Währung | Hrywnja |