Berlin. Wenn einer die Koalition sprengt, dann Christian Lindner, wird gemunkelt. Doch ein einflussreicher Wirtschaftsboss warnt den FDP-Chef.
Christian Lindner tut ganz verdutzt, als ihn vor dem „Clubraum“ im Bundestag eine Reihe von Kameras erwartet. „Was ist denn hier los?“, fragt der Finanzminister ganz unschuldig. Lindner und FDP-Fraktionschef Christian Dürr treffen sich an mit einer Handvoll Wirtschaftsvertreter. Die meisten von ihnen sind ebenso wie Linder nicht eingeladen zum Wirtschaftsgipfel von Kanzler Olaf Scholz, der wenige Stunden später nur wenige hundert Meter von hier stattfinden wird.
Auf dem Tisch stehen bei der kleinen FDP-Runde Kekse, Saft und Kaffee. Außerdem gibt es Laugen-Sesam-Bagel mit Lachs, Wraps, etwas Obst und einige Stücke Donauwelle. DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben ist jedoch nicht zum Kuchenessen gekommen. Kaum ist Lindner im Raum, legt der Verbandsmann den Finger in die Wunde: „Das ist der Tiefpunkt der Koalition“, sagt Wansleben. Lindner antwortet mit einem gedehnten: „Neeein.“
Lindner gilt als der Mann, der über den Fortbestand der Koalition entscheidet
Jedes Wort Lindners wird in diesen Tagen gedreht und gewendet. Der 45-Jährige gilt im Ampel-Bündnis als der Mann, der über den Fortbestand der Koalition entscheidet.
Die Vorgeschichte dieses doppelten Gipfeltages ist bekannt: Deutschlands Wirtschaft geht es schlecht, Geld zum Ankurbeln der Konjunktur hat die Regierung jedoch nicht, gemeinsame Ideen auch nicht. In Kurzform lässt sich der Konflikt erklären mit „Investitionen durch Schulden“ (SPD und Grüne) gegen „Sparen und bessere Rahmenbedingungen“ (FDP). Der Handlungsspielraum der Regierung ist also minimal.
Scholz, Habeck, Linder funktioneren als Ampel-Kraftzentrum nicht mehr
Scholz lud dennoch zum Gipfel. Er will hören, wo der Schuh bei den Konzernen drückt, sagte aber ausgerechnet seinem Finanzminister und dem Wirtschaftsminister Robert Habeck nicht Bescheid. Die Stimmung in der Dreierrunde, dem früheren Kraftzentrum und Ruhepol der Koalition, ist damit im Keller. Verbale Giftpfeile fliegen hin und her. Die FDP organisierte trotzig ihr eigenes Branchentreffen. Weder der nur als Start für längere Beratungen gedachte Kanzlergipfel noch die Konkurrenzveranstaltung der FDP werden absehbar die erhoffte Wirtschaftswende bringen. Ein Verbandsvertreter spricht von „politischem Show-Catchen“.
Manche nennen es Chaos, andere Kindergarten. Mehr Misstrauen, mehr Gereiztheit gehen in einer Koalition kaum noch. Besser als jetzt werde es sicher nicht mehr, heißt es von einer Seite. Und so legt sich eine Endzeitstimmung über das Regierungsviertel. Offen wie bisher wird in der Koalition über Trennungsszenarien gesprochen.
Rente, Haushalt, Migration: Die Ampel hat schwere Brocken vor sich
Ob die Ampel hält, hängt einerseits davon ab, ob die Partner es schaffen, sich bis Mitte November auf einen Haushalt für 2025 zu einigen. Einen einstelligen Milliardenbetrag müssen SPD, Grüne und FDP einsparen. Das ist gemessen an der Summe des Gesamtetats nicht viel, angesichts der verbliebenen politischen Gemeinsamkeiten aber ein Betrag, an dem das Bündnis zerbrechen kann. Vor allem, wenn Lindner immer wieder Kürzungen des Bürgergelds ins Spiel bringt – und die SPD damit zur Weißglut treibt.
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Hinzu kommt der Streit ums Rentenpaket: Für die SPD ist dieses unverhandelbar, es gibt jedoch Widerstand in der FDP-Fraktion. In der Migrationspolitik wiederum fordern die freien Demokraten mehr Härte von den Partnern. Er habe nicht die Absicht, die Koalition zu beenden, beteuerte Lindner kürzlich. Wenn das in der Koalition Erreichbare aber in keinem Verhältnis mehr stehe zu dem, was das Land dringend brauche, „dann müssen alle sich die Karten legen“.
Erinnerungen an Lindner 2017: „Es ist besser, nicht zu regieren als falsch zu regieren“
In der Koalition wurde das als deutliche Warnung verstanden: Bekommt er nicht, was er will, verlässt die FDP die Koalition. Man fühlt sich erinnert an den Satz, mit dem Lindner vor bald genau sieben Jahren die Gespräche über die Bildung einer Jamaika-Koalition sprengte: „Es ist besser, nicht zu regieren als falsch zu regieren.“ Falls Lindner aussteigt, wird bei SPD und Grünen damit geliebäugelt, in einer rot-grünen Minderheitsregierung bis zum regulären Wahltermin im September 2025 weiterzumachen. Andere Ideen kreisen um vorgezogene Neuwahlen im März.
Andererseits: Lindners FDP kämpft ums politische Überleben. Bei raschen Neuwahlen müsste sie ein Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde befürchten. Wenn der FDP-Chef die Abrissbirne gegen die Ampel schwinge, dann sei das Schicksal der Partei und ihres Vorsitzenden doch endgültig besiegelt, wird bei den Koalitionspartnern prophezeit. Aber wenn Lindner in einem solchen Befreiungsschlag seine letzte Chance sieht?
Arbeitgeberpräsident Dulger macht klar, was er von Lindner erwartet
Gut anderthalb Stunden dauert Lindners Treffen mit den Wirtschaftsvertretern. Danach macht Rainer Dulger deutlich, was er von der Regierung, aber auch von Lindner, verlangt. Deutschland müsse wieder auf Wachstumskurs kommen, fordert der einflussreiche Arbeitgeberpräsident. Die Ampel müsse dafür „gemeinsam“ Wirtschaftspolitik machen (Lindner verschränkt die Arme), die Form der Zusammenarbeit der Ampel dürfe kein „Investitionshemmnis“ sein (Lindner nickt), ohne „weitreichende Reformen“ drohten Bürgern und Betriebe „erhebliche Mehrbelastungen“ (Lindner nickt abermals).
„Meine Erwartung ist: Wir müssen jetzt nach dem politischen Schaulaufen ins Handeln kommen“, mahnt Dulger. „Regierungsverantwortung heißt auch Regierungsverpflichtung.“ Schließlich ist Lindner an der Reihe. Warum er nicht einfach die Ampel verlasse, fragt ein Journalist. Lindner zitiert Dulgers Worte von der „Regierungsverpflichtung“ und fügt hinzu: „Für Deutschland ist es allemal besser, wenn eine Regierung eine gemeinsame Richtung findet, beschreibt und umsetzt.“ Also eine Absage an den Koalitionsbruch – oder doch nicht?
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