Berlin. Wo ist Maria Kolesnikowa? Die inhaftierte Oppositionelle aus Belarus ist spurlos verschwunden. Ihre Schwester kämpft verzweifelt um sie.
Die Angst um ihre Schwester ist für Tatsiana Khomich zum ständigen Begleiter geworden. „Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke und mich frage, ob sie noch lebt – und wenn ja, wie lange“, sagt Khomich im Gespräch mit unserer Zeitung. Ihre Schwester, Maria Kolesnikowa, ist das bekannte Gesicht der Opposition in Belarus. Mit ihren kurzen blonden Haaren, dem typischen roten Lippenstift und dem Herzen, das ihre beiden Hände stets formten, ist Kolesnikowa zu einem Symbol des Widerstandes geworden. Zusammen mit Swetlana Tichanowskaja und Veronika Zepkala setzte sie sich gegen den Machthaber Alexander Lukaschenko ein – und bezahlte dafür mit ihrer Freiheit.
Als einzige des Trios entschied sich Kolesnikowa gegen die Flucht ins Exil und wurde im Jahr 2021 wegen angeblicher Verschwörung zur Machtergreifung zu elf Jahren Straflager verurteilt. Seitdem sitzt sie in der Strafkolonie in Homel, 300 Kilometer von der belarussischen Hauptstadt Minsk entfernt – aber ganz sicher ist nicht einmal das. Denn von der 42-jährigen Oppositionellen gibt es seit mehr als anderthalb Jahren kein Lebenszeichen mehr. Wenige Wochen nach einer Not-OP hinter Gittern verschwand sie im Februar 2023 spurlos. „Wir haben keinerlei Kontakt zu Maria. Es gibt keine Infos, keine Kommunikation, keine Anwaltsbesuche“, sagt Khomich.
Kolesnikowa soll nur noch 45 Kilogramm wiegen
Khomich ist vier Jahre jünger als ihre Schwester und gehört ebenfalls der belarussischen Protestbewegung an. Sie hat eine Menschenrechtsorganisation für Angehörige politischer Gefangene gegründet. Aufgrund zunehmenden Drucks auf die Opposition verließ Khomich im Sommer 2020 Belarus und ging ins Ausland. Wo sie sich derzeit aufhält, will die 38-Jährige aus Sicherheitsgründen nicht sagen, verrät aber, dass sie in einer europäischen Großstadt lebt. Derzeit reist sie durch ganz Europa, um auf die Situation ihrer Schwester aufmerksam zu machen. „Wir haben große Angst, dass Maria diese Haft nicht überleben wird. Jeder Tag könnte ihr letzter sein“, sagt Khomich.
Die einzigen aktuellen Informationen, die Khomich über den Zustand ihrer Schwester hat, erhielt sie von ihren ehemaligen Mitgefangenen. „Sie haben erzählt, dass meine Schwester extrem abgemagert ist und nur noch 45 Kilogramm wiegen soll. Bei einer Größe von 1,75 Meter ist es lebensgefährlich“, schildert die Bürgerrechtlerin. Zudem braucht Kolesnikowa eine spezielle Nahrung, nachdem vor zwei Jahren ihre Magenwand wegen eines Geschwürs durchbrach und sie notoperiert werden musste. „Diese spezielle Nahrung wird ihr verwehrt und sie wird systematisch ausgehungert“, ist sich die 38-Jährige sicher.
Den belarussischen Behörden wirft sie eine „perfide Taktik“ vor, ihre Schwester physisch und psychisch zermürben zu wollen. „Wir wissen von ihren ehemaligen Mitgefangenen, dass Maria seit Monaten in einer winzigen Isolationszelle sitzt. Als Toilette dient ein Loch im Boden und an der Wand hängt eine Pritsche“, so Khomich. Kolesnikowa dürfe keine Bücher und keine Essenspakete erhalten. „Sie darf nicht mal im Gefängnishof spazieren gehen und sich nur einmal in der Woche waschen. Wie soll man unter solchen Haftbedingungen nicht kaputtgehen?“, fragt ihre Schwester mit brüchiger Stimme.
Rund 350.000 Belarussen mussten das Land verlassen
Einen Anwalt hat Kolesnikowa lange nicht mehr. Denn alle, die sie verteidigten, hätten ihre Lizenz verloren. „Teilweise wurden die Anwälte selbst verhaftet oder mussten aus Belarus fliehen. Nun will keiner mehr meine Schwester in dem Land verteidigen“, berichtet Khomich und macht auf die katastrophale Menschenrechtslage in Belarus aufmerksam.
Seit den Massenprotesten im Jahr 2020, die sich gegen den Autokraten Alexander Luskaschenko und seine manipulierte Präsidentschaftswahl richteten, wurden Tausende Menschen verhaftet. Laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International haben seit 2020 rund 350.000 Belarussen das Land verlassen, weil die Regierung scharf gegen Andersdenkende vorgeht.
Im Mai 2023 wurden Änderungen am Strafgesetzbuch vorgenommen, die es den Behörden noch einfacher machen, Menschen wegen „Verbrechen gegen den Staat“ strafrechtlich zu verfolgen. Außerdem wurde die „Diskreditierung“ der Streitkräfte und anderer Regierungstruppen wie Paramilitärs unter Strafe gestellt. „Menschen kommen ins Gefängnis, weil sie einen Telegram-Kanal abonniert hätten, der angeblich extremistisch sein soll, oder weil sie vor Jahren an eine Menschenrechtsorganisation gespendet haben“, erzählt Khomich.
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Der Westen hat zwar Sanktionen gegen Belarus verhängt und erkennt Lukaschenko seit der gefälschten Wahl 2020 als Präsident nicht mehr an, trotzdem hält sich das Regime im Land hartnäckig weiter. „Das liegt vor allem daran, dass Lukaschenko von Putin unterstützt wird. Putin will Belarus so kolonialisieren wie die Ukraine – nur ohne Krieg“, vermutet die Bürgerrechtlerin. Sie sei sich jedoch sicher, dass der Großteil der Bevölkerung Lukaschenko nicht gutheißt und aus Angst vor Repressalien zum Schweigen verdonnert ist.
Kolesnikowa lebte zwölf Jahre in Deutschland
Als vor fast drei Monaten der größte Gefangenenaustausch zwischen Ost und West seit dem Kalten Krieg stattfand, hoffte Khomich, auch den Namen ihrer Schwester auf der Liste zu finden. „Doch Lukaschenko ließ keinen einzigen Belarussen frei. Wir waren unglaublich enttäuscht“, erinnert sich die 38-Jährige. Trotzdem will sie die Hoffnung nicht aufgeben, ihre Schwester und andere politische Gefangene aus dem Gefängnis zu holen. „Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, auch wenn es Verhandlungen mit dem Regime bedeutet, um die Menschen zu befreien oder zumindest ihre Haftbedingungen zu verbessern“, beteuert die Bürgerrechtlerin.
Besonders von Deutschland fordert Khomich mehr Einsatz für ihre Schwester, die auch fließend Deutsch spricht. Zwölf Jahre hat Kolesnikowa in Stuttgart gelebt und als Flötistin gearbeitet. „Bitte vergesst sie nicht“, appelliert ihre Schwester.