Düsseldorf. Neue Dokumente zu den internen Abläufen nach dem Solingen-Anschlag zeigen, dass in der NRW-Regierung offenbar manches im Argen lag.
Die interne Krisenkommunikation der schwarz-grünen Landesregierung in den Stunden nach dem Terroranschlag von Solingen am 23. August wirft neue Fragen auf. Offenbar hat es im Austausch zwischen NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) und Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) stärker gehakt als bislang bekannt war.
Der „Spiegel“ berichtete am Donnerstag unter Berufung auf interne Regierungsunterlagen, dass Reul frühzeitig davon gewusst habe, dass es sich bei dem tatverdächtigen Syrer Issa al H. um einen Flüchtling handelte, der ein Jahr zuvor nach Bulgarien hätte abgeschoben werden müssen. Die für Rückführungen zuständige Flüchtlingsministerin Paul hatte er allerdings erst anderntags versucht, darüber in Kenntnis zu setzen. In der Öffentlichkeit war zeitweilig ein anderer Eindruck der Abläufe entstanden.
Außerdem muss das NRW-Flüchtlingsministerium auf Arbeitsebene sehr viel enger und früher in die Fahndung nach dem Terrorverdächtigen eingebunden gewesen sein, als dies bislang gegenüber dem Parlament deutlich gemacht wurde. Die grüne Ministerin Paul steht schwer in der Kritik, weil sie nach dem Anschlag vier Tage lang abgetaucht war und angeblich lange gar nicht wissen konnte, dass das Solinger Verbrechen ihr Ressort berühren könnte.
Solingen-Attentat: Opposition in NRW kritisiert „chaotische Zustände“ in der Regierung
FDP-Landtagsfraktionschef Henning Höne sprach von „chaotischen Zuständen innerhalb der Landesregierung nach dem Terroranschlag“. Er äußerte den „Verdacht, dass Innenminister Herbert Reul Parlament und Öffentlichkeit in die Irre geführt hat“. SPD-Fraktionsvize Lisa-Kristin Kapteinat forderte Klarheit, „wie der genaue Ablauf gewesen ist“.
Konkret geht es um eine fünfseitige regierungsinterne „Chronologie der Informations- und Kommunikationsabläufe“ der Polizeiführung. Daraus gehen zwei Umstände hervor, die in dieser Form nicht bekannt waren und Zweifel an der Abstimmung innerhalb der Regierung wecken. Erstens: Der genaue Zeitpunkt, ab dem Reul wusste, dass es sich bei dem Tatverdächtigen um einen ausreisepflichtigen „Dublin“-Flüchtling handelte. Zweitens: Die Einbeziehung des Paul-Ministeriums noch vor der Festnahme des Terrorverdächtigen.
Nachdem der Syrer am 23. August gegen 21.30 Uhr auf dem Stadtfest drei Menschen ermordet und mehrere Opfer schwer verletzt hatte, verfolgten die Ermittler bereits am 24. August um 15.04 Uhr konkret die Spur des 26-Jährigen und forderten um 16.13 Uhr die Asylakte des Mannes an. Zwischen 16.45 Uhr und 17 Uhr nahm das Landeskriminalamt dafür Kontakt mit dem Flüchtlingsministerium von Paul auf. Dort bemühte sich ein Mitarbeiter um die Akte, doch das parallel alarmierte Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lieferte die Unterlagen schneller an das Bundeskriminalamt.
Solingen: Mitarbeiter des NRW-Flüchtlingsministeriums früh eingebunden
Reul wiederum wurde an jenem 24. August um 18.48 Uhr telefonisch von Polizeiinspekteur Michael Schemke darüber in Kenntnis gesetzt, dass es sich bei dem gesuchten Syrer Issa al H. um einen Flüchtling handelt, dessen Überstellung nach Bulgarien im Sommer 2023 gescheitert war. Knapp vier Stunden später konnte der Tatverdächtige festgenommen werden. Am nächsten Morgen um 10 Uhr fuhr der für ausländerrechtliche Fragen zuständige Mitarbeiter des Paul-Ministeriums sogar persönlich ins Landeskriminalamt, um den Ermittlern zu helfen.
Diese Details sind wichtig, weil die Landesregierung öffentlich eine etwas andere Version serviert hatte. Die ging so: Reul habe gleich am Morgen nach der Festnahme die frische Information einer gescheiterten Abschiebung des späteren Attentäters der Kollegin Paul mitteilen wollen. Diese sei jedoch auf Auslandsreise in Frankreich gewesen und habe bei Reuls formloser SMS-Bitte um ein Telefonat – trotz bundesweiter, inzwischen knapp 36 Stunden andauernder medialer Berichterstattung - gar nicht wissen können, worum es ging. Das Telefonat kam jedenfalls nicht zustande.
Reul hat am 5. September im Innenausschuss des Landtags auf Nachfrage zum Informationsfluss an die Kollegin Paul zunächst erklärt: „Am Sonntagmorgen, dem 25. 8., so morgens ungefähr halb neun, habe ich Kollegin Paul eine SMS geschrieben. Ich wollte wissen, wann wir telefonieren können – ohne Benennung des Problems. Hintergrund: Mir war aus polizeilichen Ermittlungen mittlerweile bekannt geworden, dass es sich bei dem in der Nacht festgenommenen Tatverdächtigen um einen Flüchtling handelt. Was auch bekannt wurde: Es gab in der Vergangenheit einen schon einige Zeit zurückliegenden, gescheiterten Rückführungsversuch nach Bulgarien. Das ist ja mittlerweile bekannt, mir war das da neu.“
Am 11. und 26. September hatte Reul dann im Landtag präzisiert, dass er bereits am Abend des 24. August telefonisch über den Flüchtlingsstatuts des Attentäters informiert worden sei. Warum diese Information die zuständige Ministerin Paul nicht zeitnah erreichte, bleibt ein Rätsel. Unklar ist auch, warum sich Reul überhaupt nachträglich in die Rolle des regierungsinternen Boten manövrierte. Es war eigentlich nicht sein Problem, dass die Kollegin zwei Tage nach einem der schlimmsten islamistischen Anschläge seit Jahren noch immer ahnungslos durch Frankreich tourte, während er Tag und Nacht in Solingen die Stellung hielt. Dass Reul am Abend des 24. August, als Issa al H. noch nicht gefasst war und die Polizeiarbeit auf Hochtouren lief, anderes im Kopf hatte als die Information der Kabinettskollegin, klingt zumindest lebensnah. Außerdem: Musste er nicht davon ausgehen, dass der früh in die Besondere Aufbauorganisation (BAO) der Polizei eingebundene Mitarbeiter des Paul-Ministeriums die eigene Chefin ohnehin schon informiert hatte? Vermutlich wird das alles erst der Untersuchungsausschuss des Landtags rekonstruieren können, der im November eingesetzt wird.