Düsseldorf. Der fragwürdige Umgang mit Behördenpannen vor dem Solingen-Attentat und ihre Krisenkommunikation setzen der Grünen Josefine Paul zu.
Das Redemanuskript ist für Politiker am Karriereabgrund ein Sicherheitsgeländer. Man klammert sich mit schwitzigen Händen an diesen Handlauf, den Fachabteilungsbeamte in vielen Krisensitzungen zurechtgeschnitzt haben. Jetzt bloß keinen Fehltritt mehr. Josefine Paul lässt nur einmal kurz los.
Am vergangenen Mittwochmittag muss die grüne NRW-Flüchtlingsministerin im Düsseldorfer Landtag sprechen. Anderthalb Stunden hat sie zuvor fast reglos auf der Regierungsbank gekauert. Paul, eine schmale 42-jährige Frau, scheint ein wenig in ihrem graublauen Blazer zu versinken. Sie fixiert durch ihre runden Brillengläser irgendeinen Punkt im Plenarsaal und hört zu, wie der Ministerpräsident den Terroranschlag von Solingen zur „Zäsur“ für die Asyl- und Sicherheitspolitik der Landesregierung erklärt. Ihrer Landesregierung.
Dann ist Paul dran und liest zunächst ihren Text ab. „Für viele Menschen war das Attentat ein“, die Ministerin atmet zwei Sekunden zu lange aus, „Einschnitt“. Der Solinger-Attentäter, der 26-jährige Syrer Issa al H., hätte gar nicht mehr in Deutschland sein dürfen. In Pauls Verantwortungsbereich sind haarsträubende Behördenfehler passiert. Trotzdem braucht sie vier Tage, um erstmals vor eine Kamera zu treten. Selbst in den eigenen Reihen hält sie mancher für nicht mehr tragbar.
Ganz am Ende ihrer Rede, als Paul schon mit den Händen die Sprechzettel bügelt, sagt sie noch einen Satz, den man ihr so nicht aufgeschrieben hat. Es ist mehr ein Satzungetüm, das aber manches über ihre Gemütsverfassung verrät: „Und gemeinsam werden wir auch weitere Antworten finden können, denn nur gemeinsam werden wir an dieser Stelle es schaffen, den Herausforderungen auch zu begegnen, Antworten zu finden, die offene Gesellschaft, unsere Verpflichtung zu Solidarität, und das gleichzeitige Versprechen der Einlösung von Rechtsstaatlichkeit auch wirklich einlösen.“
Solingen 1993 hat sie politisiert, Solingen 2024 setzt sie unter Druck
Gemeinsam. Antworten. Solidarität. Es sind die Worte einer Frau, um die es gerade ziemlich einsam geworden ist. Paul, aufgewachsen an der deutsch-deutschen Grenze in Helmstedt, wurde im linken Flügel der Grünen sozialisiert. Ihr politisches Erweckungserlebnis war der ausländerfeindliche Brandanschlag von Solingen 1993. „Das konnte ich als junge Schülerin nicht begreifen. Hass und Hetze wollte und will ich nicht hinnehmen“, hat sie einmal erzählt. Die multikulturelle Gesellschaft wurde ihr Ideal, Vielfalt ihre Verheißung.
Vor drei Wochen ist „Solingen“ nun zur Chiffre für das Scheitern von Zuwanderung geworden. Grenzen sollen fortan kontrolliert, Asylbewerber mit „Bett, Brot, Seife“ abgespeist und Abschiebungen forciert werden. Paul muss jetzt schnell eine zweite Abschiebehaftanstalt bauen und Flüchtlinge mit Wohnverpflichtungen bis zum Rückflug belegen.
Bis vor kurzem stand sie für das glatte Gegenteil. Die Kommunen beschwerten sich seit zwei Jahren darüber, dass Paul ihnen Massen von Asylbewerbern mit unsicherer Bleibeperspektive zuwies, obwohl Integrationskapazitäten schon lange erschöpft sind. Das Management des Landes sei katastrophal, die grünen Multikulti-Träumereien von einer raschen Arbeitsmarktintegration weltfremd, klagten Oberbürgermeister im Schutze der Anonymität.
Abschiebeministerin wider Willen: Paul muss sich nun selbst dementieren
Nun muss Paul zur Abschiebeministerin werden und kann sich nicht wehren. Ihr politischer Kredit ist aufgezehrt. Während der populäre Innenminister Herbert Reul (CDU) keine drei Stunden nach dem Messer-Attentat erschüttert an den Blutlachen vor der Solinger-Stadtfestbühne stand, war von Paul auch drei Tage später nichts zu sehen. Auf einer Dienstreise nach Frankreich rief sie Reul nicht einmal zurück.
Sie habe erstmal „alles auf den Tisch“ bekommen und ansehen wollen, verteidigt sich Paul. Selbst bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt, satte 90 Stunden nach der Tat, ließ sie die Journalisten immer wieder vertrösten, weil sie noch einen letzten und einen allerletzten Vorgang überprüfen wollte.
Es sind die Reaktionsmuster einer Politikerin, die sich ihrer Position nie allzu gewiss sein konnte. Paul kam zum Studium aus Braunschweig nach Münster und unterrichtete nach dem Magister-Abschluss ein paar Monate Geschichte, Politik und Sport an einer Dortmunder Schule. Über die Landesarbeitsgemeinschaft „Queer“ stieg sie schnell bei den NRW-Grünen auf. Paul lebt mit der sächsischen Justizministerin Katja Meier zusammen und hat im April Hochzeitspläne öffentlich gemacht.
Grünen-Außenseiterin Paul konnte sich ihrer Position nie gewiss sein
Ihre schnarrende Rhetorik, die immer eine Spur zu laut wirkt, muss wohl Unsicherheit kaschieren. Dieses notorisch Joviale und Scheinkollegiale des Politikbetriebs liegt der Niedersächsin erkennbar nicht. Noch als Paul 2020 zur Co-Chefin der Landtagsfraktion aufstieg, wunderte sich ein grünes Urgestein mal lästernd im Ruhestand: Die Frau sei doch bloß „Expertin für Homo, Transgender und Sachen, von denen ich gar nicht weiß, was das überhaupt ist“.
Das wird Paul gewiss nicht gerecht. Die frühere Fußballerin, die eigentlich über die wachsende gesellschaftliche Relevanz des Frauenkickens promovieren wollte, gilt als fleißig und zäh. „Ich konnte gut grätschen“, sagt sie über ihre Zeit auf dem Rasen. Ihr politisches Mannschaftsspiel ist dagegen ausbaufähig. Ihr Ministerium wirkt in der Solingen-Krise überfordert. Die verwaltungsunerfahrene Paul habe „das Haus nicht im Griff“ und sei schlecht beraten, heißt es. Es sei überdies ein Fehler gewesen, sich in den Koalitionsverhandlungen mit der CDU ausgerechnet die Ressortzuständigkeit für die beiden Großkrisen „Migration“ und „Kita“ aufzuhalsen.
Zu spät. „Wir stellen uns den Realitäten“, hat Josefine Paul noch im Landtag gesagt. Was immer das für ihre persönliche Zukunft heißt.