Berlin/Essen. Hunderttausende Libanesen bringen sich in Sicherheit. Eingekesselt von Assads Syrien, dem Mittelmeer und Israel bleiben wenige Optionen.

Die Eskalation im Nahen Osten fordert ihren Tribut: Viele Zivilistinnen und Zivilisten lassen ihr Zuhause zurück und machen sich auf die Flucht. Doch wohin? Ein Überblick über die Situation.

Wie viele Menschen fliehen angesichts der militärischen Eskalation aus ihrem Zuhause?

Exakt kann man das nicht sagen, doch die Zahl dürfte sehr hoch sein. Die libanesische Regierung rechnet mit 1,2 Millionen Flüchtlingen – ein Sechstel der libanesischen Bevölkerung. 400.000 der Geflüchteten sollen Kinder sein. Die Kinderhilfsorganisation Unicef ist mit einem Hilfsteam vor Ort. Sprecherin Tess Ingram berichtet am Telefon von grauenhaften Erzählungen. „Manche Familien mussten mitten in der Nacht fliehen, mit nichts mehr als dem, was sie am Leib trugen.“ Vor allem aus dem Südlibanon und der Hauptstadt Beirut hätten sich die Menschen auf den Weg gemacht. Ingram hat am Vortag mit einer Elfjährigen gesprochen, die mit ihren Eltern nachts im Auto geflüchtet war. „Plötzlich gab es in der Nähe einen Angriff, das Glas der Autoscheiben zersplitterte, sie konnten mit dem zerstörten Auto nicht weiterfahren und mussten den restlichen Weg laufen.“ Das Mädchen sei völlig traumatisiert.

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Wie ist die humanitäre Situation vor Ort?

„Wir versuchen, zu den Menschen zu gehen und ihnen Medikamente, Hygiene-Sets, Wasser und Decken zu bringen“, sagte Ingram. Dabei gebe es mehrere Probleme: „Wir haben uns zwar schon länger auf eine größere Krise eingestellt. Aber wenn der Bedarf binnen acht Tagen von 200.000 auf 1,2 Millionen Menschen steigt, ist das schwierig.“ Die Helfer müssten schneller sein, und es brauche mehr Geld. Nun will Unicef, trotz hoher Kosten, zwei Charterflüge organisieren. Außerdem soll bald der Lkw-Verkehr von Jordanien über Syrien bis in den Libanon anlaufen. Die Kinder bräuchten neben der Versorgung auch Ablenkung vom Krisengeschehen. Im Libanon hat das Schuljahr gerade wieder angefangen. Nun überlegen die Helferinnen und Helfer, wie man trotz umfunktionierter Schulgebäude ein bisschen Unterricht und Schulalltag herstellen könnte.

Wohin gehen sie?

Es gibt nicht viele Möglichkeiten: Der Libanon grenzt im Norden und Osten an Syrien, im Süden an Israel und im Westen liegt das Mittelmeer. Die meisten Betroffenen suchen nun innerhalb des Landes Zuflucht. Es gebe mittlerweile 900 Flüchtlingsunterkünfte, hauptsächlich in Schulen. Ihre Zahl steige täglich – und doch seien schon 600 davon an ihrer Kapazitätsgrenze angelangt, sagte Unicef-Sprecherin Tess Ingram.

Nichtsdestotrotz versuchen manche auch, das Land zu verlassen. Weil der Flugverkehr stark eingeschränkt ist, wählen viele Menschen den Weg übers Meer. Mehrere Hundert haben via Fähre den Libanon in Richtung Türkei verlassen. Ein Fährschiff habe unter anderem deutsche Staatsbürger in die türkische Hafenstadt Mersin gebracht, berichtete der türkische Staatssender TRT. Insgesamt hätten bereits mehr als 700 Menschen über diese Route die Türkei erreicht. 

Auf dem Schiff seien auch libanesische und türkische Staatsangehörige gewesen. Die Fährfahrten sind keine offizielle Evakuierungsmaßnahme. Evakuierungen vonseiten der türkischen Regierung haben bisher nicht begonnen, könnten aber kurz bevorstehen. Unter Berufung auf Quellen im Verteidigungsministerium berichtete TRT, dass die Vorbereitungen dazu abgeschlossen seien. Dem Sender zufolge leben 14.000 türkische Staatsbürger im Libanon.

Werden einige von ihnen nach Europa kommen?

Das steht nicht zu erwarten. „Es gibt traditionell keine Flüchtlingsströme aus Richtung Libanon nach Deutschland“, sagte der Sicherheitsexperte Carlo Masala unserer Redaktion. „Die Libanesen gehen, wenn überhaupt, nach Frankreich, oder sie bleiben in der Region.“

Der Libanon grenzt vor allem an das Bürgerkriegsland Syrien. Wie ist die Lage dort?

Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind im Zuge des syrischen Bürgerkriegs etwa 1,5 Millionen aus Syrien in den Libanon geflohen. 90 Prozent leben in extremer Armut. Seit dem Beginn der schweren israelischen Bombardements sind nach UN-Angaben bereits 130.000 Menschen aus dem Libanon nach Syrien geflohen, etwa 60 Prozent von ihnen sind Syrer. Allein in der kurdisch dominierten nordostsyrischen Autonomieregion sind nach Angaben der dortigen Selbstverwaltung aktuell 11.000 Flüchtlinge aus dem Libanon angekommen. Die Lage in dieser Region ist ohnehin extrem angespannt. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Türkei bombardiert immer wieder, IS-Zellen führen regelmäßig Attacken durch. Trotzdem heiße man die Flüchtlinge willkommen, so Elham Ahmad, Außenbeauftragte der Region. Sie bittet um Unterstützung aus Europa. „In dieser angespannten Lage ist humanitäre Soforthilfe notwendig.“ Außerdem fordert Ahmad die Öffnung des irakisch-syrischen Grenzübergangs al-Yaarubiyah, um die Lieferung humanitärer Hilfe zu ermöglichen.

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Welche Rolle spielt Zypern?

Manche Geflüchtete haben ein Boot bestiegen und sind übergesetzt auf die Insel, die zur Europäischen Union gehört. Zypern ist nicht einmal 200 Kilometer von der libanesischen Küste entfernt. Besitzer von Luxusjachten an der Dbayeh Marina, etwa eine halbe Stunde nördlich von Beirut, sollen aus dieser Lage nun ein einträgliches Geschäft machen. Bis zu 1600 US-Dollar pro Überfahrt berechnen sie laut der britischen Website „Metro“ – wenige Tage zuvor seien es noch 300 US-Dollar für die gut sechsstündige Fahrt gewesen. Die zyprische Nachrichtenagentur CNA berichtet von sieben libanesischen Booten, der derzeit im südlichen Hafen von Ayia Napa vor Anker lägen und regelmäßig hin und her führen.

Mehr von Israel-Korrespondentin Maria Sterkl