Berlin. Kiew fordert die Erlaubnis, Langstreckenwaffen gegen russische Ziele einzusetzen. In Deutschland rennt man gegen Wände, sagt Carlo Masala.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj drängt auf die Freigabe aus dem Westen, russische Militäranlagen mit westlichen Langstreckenwaffen attackieren zu dürfen. Militärexperte Carlo Masala erwartet demnächst eine Entscheidung in Washington.

Herr Masala, wie sehen Sie aktuell die Lage in den Frontgebieten?

Carlo Masala: In Kursk haben die Russen eine kleinere Gegenoffensive gestartet, die größtenteils zurückgeschlagen worden ist. Jetzt sind die Ukrainer mit einer mechanisierten Brigade in den Landkreis Gluschkowo eingedrungen, also ein kleinerer zweiter Vorstoß auf russischem Gebiet. Russland ist noch immer dabei, die zivile Infrastruktur in der Ukraine anzugreifen. Im Donbass kommen die Russen weiterhin voran, und zwar schneller als in den vergangenen Wochen und Monaten. An der Südfront bei Saporischschja und Cherson ist eine Statik drin, wenn auch kein absoluter Stillstand. Es fehlt den Ukrainern an Material und an weitreichenden Waffen. Die Stimmung ist also insgesamt nicht gut. Selenskyj will Joe Biden in der kommenden Woche seinen sogenannten Friedensplan vorstellen…

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Er sprach dabei von vier wesentlichen Punkten. Was könnte das sein?

Masala: Die USA sollen von der Notwendigkeit überzeugt werden, der Ukraine den Beschuss russischer militärischer Ziele mit Langstreckenwaffen zu gestatten. Es wird wohl darum gehen, dass infolge der Bürgenstock-Konferenz in der Schweiz eine zweite internationale Friedenskonferenz stattfindet, diesmal unter Beteiligung Russlands. Diese könnte noch dieses Jahr stattfinden, womöglich in Indien. Da ist die Frage: Machen die Russen da mit?

Carlo Masala

Er ist einer der bekanntesten Militärexperten in Deutschland. Masala (Jahrgang 1968) lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Er beantwortet unserer Redaktion jede Woche die wichtigsten Fragen rund um den Konflikt in der Ukraine.

Wie wahrscheinlich ist es, dass Joe Biden den Ukrainern die gewünschte Erlaubnis für die Langstreckenwaffen erteilt?

Masala: Das ist schwer einzuschätzen. Aber in den USA bewegt sich alles in die Richtung, dass es letztlich doch erlaubt wird. Die Entscheidung wird rund um den Besuch Selenskyjs bei Biden fallen, also etwa zur UN-Generalversammlung am 22. und 23. September. Jake Sullivan hat auf der Kiewer Konferenz am Wochenende gesagt, es gebe logistische Probleme – was er damit gemeint hat, weiß ich nicht. Die Amerikaner wollen sehen, dass das, was Selenskyj ihnen präsentiert, Sinn ergibt, sodass der Einsatz dieser Waffen dann auch Sinn ergibt.

Mit dieser Frage kommt auch neuer Wind in die Taurus-Debatte…

Masala: Der Kanzler hat das bereits abmoderiert, und davon wird er keinen Millimeter abrücken. Taurus an die Ukraine zu liefern, findet keine Mehrheit in Deutschland. Die SPD steht generell in den Wahlkämpfen unter Druck.

Lesen Sie hier: Deutsche Taurus im Ausland? In diesem Land sind sie Standard

Die bisherige SPD-Haltung dazu hat der Partei in Wahlen und Umfragen auch nicht geholfen…

Masala: Das ist richtig. Allerdings würde die hysterische „Das führt uns alles in den Dritten Weltkrieg“-Front noch größer werden, wenn die Lieferung erfolgen würde. Das würde zuungunsten der SPD gehen. 

Selenskyj beklagt, seine Einheiten könnten aufgrund von Waffenmangel nicht ausgerüstet werden. Wie dramatisch ist das Problem?

Masala: Die Ukraine will 14 neue Brigaden gründen. Selenskyj sagt, sie könnten aber nur vier materiell ausrüsten. Sie brauchen Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie, Luftverteidigung, und das alles fehlt. Eine Lösung dafür ist derzeit nicht abzusehen. Man kann diese Brigaden weiterhin einsetzen, dann aber nur als infanteristische und nicht als mechanisierte Einheiten. Damit würden sie die Soldaten im Prinzip zu Fuß und in eher leicht gepanzerten Fahrzeugen einsetzen. Dadurch kommen sie langsamer an ihren Einsatzort und haben weniger Schutz unterwegs.    

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Der SPD-Mann Ralf Stegner will am 3. Oktober auf einer Kundgebung sprechen, bei der Sahra Wagenknecht Hauptrednerin ist. Im Aufruf wird ein sofortiges Ende der Waffenlieferungen gefordert, Russland wird nicht kritisiert. Stegner ist in der SPD nicht irgendwer. Was ist das für Sie für ein Signal?

Masala: Das ist kein Signal, das man der SPD anlasten müsste, das ist ein Ralf-Stegner-Signal. Er ist zwar ein prominenter Sozialdemokrat, aber kein einflussreicher. Er repräsentiert eine gewisse Strömung, die es aber bis heute nicht geschafft hat, in vielen Fragen den Kanzler unter Druck zu setzen. Es ist nicht auszuschließen, dass Stegner solche Sachen zusagt, ohne genau hinzuschauen, worum es sich handelt. Er verteidigt sich damit, dass auch Kirchen und Gewerkschaften an der Veranstaltung teilnehmen – doch bei den Kirchen stimmt es nicht, und von den Gewerkschaften kommt ein Ortsverein. Stegner redet sich da was schön. Er muss für sich selbst die Frage beantworten: Will er wirklich gemeinsam mit Wagenknecht, der MLPD und der DKP auftauchen?