Solingen. Die Stadt gedenkt der Todesopfer auf dem Stadtfest und will sich dem Terror nicht beugen. Steinmeier: „Das Land im Innersten getroffen.“
Eine gute Woche nach dem blutigen Terroranschlag von Solingen hat die Stadt am Sonntag mit einer großen Trauerfeier der Opfer des Messerangriffs gedacht. Hinterbliebene, Betroffene, Helfer, Bürgerinnen und Bürger, aber auch die vorderste Reihe deutscher Spitzenpolitiker kamen ins Theater und Konzerthaus, kaum 800 Meter von dem Ort entfernt, an dem das Stadtfest mit dem gewaltsamen Tod dreier Menschen endete. Ein bei allem Mitgefühl und allem Entsetzen eher politisches als persönliches Gedenken.
Sie sitzen alle so, dass die Kameras sie nicht sehen. Die Angehörigen, die Verletzten, die Helfer, bei der Stadt hat man peinlichst darauf geachtet, dass niemand sie filmt und fotografiert. „Wir bitten zu respektieren“, heißt es zuvor an die Journalisten, dass die meisten Anwesenden „einen unmittelbaren Bezug zum Geschehen haben und hier zum Trauern zusammenfinden“. Deshalb aber sind am Sonntag nur die im Bild, die strengste Sicherheitsvorkehrungen brauchen, die von Staats wegen mit dem Anschlag von Solingen zu tun haben: der Bundespräsident, der Bundeskanzler, die Bundesinnenministerin, ihr Kollege aus NRW, die Bundestagspräsidentin, Ministerpräsident, Bürgermeister, Regierungspräsident, Abgeordnete, sie sind alle gekommen. Auch Landesflüchtlingsministerin Josefine Paul, auf die man in Solingen in der vergangenen Woche etwas länger warten musste.
Solingen hat 250 Bürgerinnen und Bürger zur Trauerfeier eingeladen
Voll ist der Saal trotz der vielen Ehrengäste nicht. 800 würde er fassen, vielleicht ist etwas mehr als die Hälfte da. Man rückt deshalb näher zusammen im Konzertsaal des Theaters, wie es sprichwörtlich auch in allen Reden gefordert wird. 250 Bürgerinnen und Bürger durften sich um den Zugang bemühen, nach Verletzten, Angehörigen, Freunden, Rettungskräften hat man bei der Stadt zuletzt Tag und Nacht geforscht, Adressen gesammelt, Einladungen verschickt. Nicht alle haben reagiert. „Es war“, sagt eine Sprecherin, „ein Angebot.“
Es geht viel um Schmerz am Rednerpult neben den drei Kerzen, die auf der Bühne für die drei Todesopfer (56, 56, 67) brennen. Das Programm ist mit einem Satz von Sylke-Maria Pohl überschrieben: „Alles verändert sich mit dem, der neben einem ist oder neben einem fehlt“, das Streichquartettder Bergischen Symphoniker spielt das „Lacrimosa“ („Die Tränenreiche“) aus Mozarts Requiem. Aber noch mehr geht es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, in Sätzen, die Politiker immer wieder sagen, schon weil es nicht viel anderes zu sagen gibt.
„Fanatische Islamisten wollen zerstören, was wir lieben“
Der Messerangriff, sagt etwa Solingens Oberbürgermeister Tim Kurzbach, „galt uns allen“ – ein Satz, den auch der Bundespräsident wiederholt. Die Tat, so Steinmeier, habe das Land „im Innersten“ getroffen, treffe „ein freundliches, offenes, vielfältiges Land. Es trifft uns in unserem Selbstverständnis als Nation, in der die Menschen trotz aller Unterschiede friedlich zusammenleben wollen“, ob nun seit Generationen oder erst seit kurzem. Fanatische Islamisten aber wollten „zerstören, was wir lieben“.
Man werde, wird das Staatsoberhaupt politisch, ein solches Land nur bleiben, „wenn uns die Zahl derer, die ohne Anspruch auf besonderen Schutz kommen, nicht überfordert, wenn Schutzsuchende sich an Recht und Gesetz unseres Landes halten. Nur dann werden wir die Akzeptanz in der Bevölkerung wahren können“. Man dürfe die Gutwilligen nicht überfordern, mahnt Steinmeier, die Last für das Gelingen von Zuwanderung dürfe nicht bei den engagierten Menschen abgeladen werden – von denen viele schon länger an ihre Grenzen gekommen seien. Es komme darauf an, die Zugangsregeln, die es gebe und „diejenigen, die gerade geschaffen werden“, umzusetzen. Er erwarte das, und die Bevölkerung erwarte das.
Steinmeier: „Wir spüren Angst und Verunsicherung“
In Solingen habe der Staat, kritisierte dessen Chef, „sein Versprechen auf Schutz und Sicherheit nicht vollständig einhalten“ können. Ein Stück vom Grundvertrauen der Bürger sei erschüttert, viele Menschen seien „aufgewühlt, wütend, verzweifelt“. „Wir spüren Angst und Verunsicherung. Beide haben ihren Grund.“
An Familien und Freunde gerichtet, sagt der Bundespräsident: Niemand könne wirklich ermessen, „durch welche Hölle Sie gehen“. Einmal aber weicht Steinmeier hörbar berührt von seiner vorbereiteten Ansprache ab. Da erzählt er aus einem vertraulichen Gespräch, das er vor der Trauerfeier führte: mit einem Mann, „der alles Recht habe, an diesem Tag nicht da zu sein“. Er wolle auch in Zukunft wieder feiern können, habe dieser Mann ihm gesagt. „Und so leben, wie ich bisher gelebt habe.“
Bundespräsident: Terroristen dürfen nie gewinnen
Das ist auch die Botschaft von Solingens Oberbürgermeister. Bei aller Trauer, bei allem ehrlichen Dank für die Anteilnahme des ganzen Landes und an die Helfer, für den es den meisten und längsten Applaus gibt, bei aller eigenen Verzweiflung („Dachten Sie auch, warum immer Solingen?“), versucht Tim Kurzbach nach vorn zu blicken: Man wolle und dürfe sich „die Freude am Leben nicht nehmen lassen, gerade weil Terroristen, die uns diese Freude nehmen wollen, nie gewinnen dürfen“.
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„Wir sind Solingen!“, ruft der OB zweimal in den Saal, „und Solingen beugt sich niemals dem Terrorismus.“ Die Stadt werde weltoffen bleiben. Über den 26-jährigen Islamisten, der auf der 650-Jahr-Feier der Stadt gemordet habe, sagt Kurzbach: „Er hat seine Rechnung ohne die bergische Störrigkeit und ohne den rheinischen Frohmut gemacht.“ Er wünsche sich, dass alle politischen Ehrengäste dieses Sonntags wieder zurückkehrten nach Solingen: „Wir werden auch wieder feiern!“
Die letzten Töne eines Adagio sind verklungen, da steht ein Mann im Publikum auf: Man werde ein Konzert organisieren, ruft er in den Saal, genau in einem Jahr. Der Unbekannte dreht sich in alle Richtungen, versucht, jeden anzusprechen. „Und Sie sind alle eingeladen.“