San Francisco. Das Risiko steigt außerhalb der Komfortzone eines geplanten Auftritts. Kamala Harris bekam das einst selbst auf schmerzhafte Art zu spüren.

Bislang hat Kamala Harris eine nahezu perfekte Show abgeliefert. In einem Land, in dem ein Reality-TV-Star wie Donald Trump Präsident werden kann, ist das einiges wert. Ihre Rede auf dem Parteitag der Demokraten in Chicago war der vorläufige Höhepunkt einer aus dem Boden gestampften Kampagne, die noch keinen ernsthaften Rückschlag einstecken musste. Die Demokraten sind berauscht von einer neuen Euphorie. Plötzlich ist wieder alles möglich.

Doch es ist vor allem ein Makel, der Harris zuletzt noch anhaftete: Seit dem Start ihrer Kampagne hat sie kein einziges Interview gegeben. Nie hat sie die Komfortzone der orchestrierten Auftritte verlassen und sich stattdessen auf kritische Fragen von unabhängigen Journalisten eingelassen.

Gefundendes Fressen für Trump

Ein Punkt, auf dem Donald Trump und sein Team seit Wochen herumreiten. Der Republikaner lud seinerseits demonstrativ zu Pressekonferenzen in seine Golfclubs in Mar-a-Lago und Bedminster ein. Die Botschaft dahinter ist nicht schwer zu entschlüsseln: Ich traue mich – sie nicht. Dabei spricht Trump selbst am liebsten mit Journalisten aus dem Hause Fox News, die ihm nach dem Mund reden.

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Seit Dienstag steht nun endlich der Termin für Harris‘ erstes TV-Interview: Am Donnerstag (in der Nacht auf Freitag deutscher Zeit) wird sie sich bei CNN den Fragen von Dana Bash stellen. Die politische Chefkorrespondentin des Senders war bereits Teil des Duos, das die erste TV-Debatte zwischen Trump und US-Präsident Joe Biden leitete. Es wird ein Doppelinterview, auch ihr Vizekandidat Tim Walz wird sich erstmals seit seinem überraschenden Aufstieg zum „Running Mate“ vor TV-Kameras den Fragen einer Reporterin stellen.

Countdown für Harris: US-Medien zählten sie bereits an

Die Ankündigung kam keinen Tag zu früh. US-Medien hatten bereits angefangen, die Tage herunterzuzählen, die Harris noch blieben, um ihr Versprechen einzulösen. In einer seltenen Interaktion mit Journalisten vor wenigen Wochen bei einem Wahlkampfauftritt in Detroit hatte sie selbst gesagt, dass sie mit ihrem Team vereinbart habe, dass noch vor Ende des Monats ein Interview terminiert werden sollte. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr.

Nach außen hin gab sich das Harris-Team stets gelassen. Es ginge zunächst darum, die politischen Leitlinien ihrer Kampagne fertig auszuarbeiten und den Parteitag vorzubereiten. Verständlich, schließlich konnte die Kampagne nicht über Monate vorbereitet werden. Doch seit vergangener Woche gilt das nicht mehr.

Die Suche nach dem oder der Richtigen

Hinter den Kulissen ist allen Beteiligten klar, was mit so einem Interview auf dem Spiel steht. In den vergangenen Tagen wurde in US-Medien wild spekuliert, wer den Zuschlag für das heiß begehrte TV-Ereignis bekommen würde, das wohl Millionen Zuschauer vor die Bildschirme locken wird. Etliche Namen waren im Gespräch.

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Gesucht hat das Harris-Team dem Vernehmen nach so etwas wie die goldene Mitte. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, dass man einen Fragensteller herausgepickt hat, der Harris mit Samthandschuhen anfasst. Ein Sender wie MSNBC kam deswegen nicht infrage. Gleichzeitig sollte es natürlich niemand sein, der die Demokratin in die Bredouille bringen könnte.

Die mutigste Wahl wäre wohl ein Interview mit Lester Holt bei NBC News gewesen. Ein Gespräch mit Holt wäre einer Rückkehr an den Ort ihres vielleicht größten Traumas ihrer Vizepräsidentschaft gleichgekommen. Der heute 65-jährige Journalist hatte Harris im Juni 2021 im ersten Jahr der Biden-Präsidentschaft interviewt. Nicht nur konservative Medien waren anschließend der Ansicht, dass die Kalifornierin eine desaströse Vorstellung abgeliefert hatte.

Harris‘ Interview-Desaster verfolgt sie bis heute

Bis heute benutzt das Trump-Team Ausschnitte aus dem Interview, um Harris in ein schlechtes Licht zu rücken. Die Schlüsselszene: Holt stellte bohrende Nachfragen zur Migrationskrise und warum Harris sich noch nicht selbst ein Bild von der Lage an der US-Grenze im Süden gemacht habe. Die Vizepräsidentin geriet ins Schlingern.

„Irgendwann werden wir die Grenze besuchen“, setzte sie an und korrigierte sich dann direkt. „Wir waren schon an der Grenze. Diese ganze Sache mit der Grenze … wir waren schon an der Grenze.“ Darauf stellte Holt direkt an Harris adressiert fest: „Sie waren nicht an der Grenze.“ Ihre genervt wirkende Antwort, die sie auch noch mit einem Lachen begleitete: „Und ich war auch nicht in Europa.“ Es ist einer dieser Ausschnitte, der sie bis heute verfolgt.

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Harris habe sich danach fast schon in einen Bunker zurückgezogen, schrieben „New York Times“-Reporter im vergangenen Jahr in einem Hintergrundbericht, der ihre Mühen aufzeigte, ihre Rolle in der Biden-Präsidentschaft zu definieren. Etwa ein Jahr lang habe sie kaum Interviews gegeben. Sie habe Angst gehabt, Fehler zu machen und den Präsidenten zu enttäuschen, so die Analyse der Journalisten.

Die Fallhöhe für Harris ist immens

Am Donnerstag wird sich zeigen, ob sie diese Angst abgelegt und ob ihr Team sie gut auf diese Drucksituation vorbereitet hat. Ob sie die richtigen Worte findet, wenn es kein Skript und keinen Teleprompter gibt.

Die Fallhöhe ist immens, gerade durch das lange Hinauszögern der Harris-Kampagne. Erlaubt sie sich auch nur einen kleinen Patzer, wird die Gegenseite das gnadenlos ausschlachten. Republikaner unken seit Wochen, dass ihr „Honeymoon“, ihre „Flitterwochen“ mit dem Wähler, irgendwann vorbei sein werde.

Das schmutzige Spiel mit den Mini-Clips

Im Zeitalter der sozialen Medien geht es nicht mehr um den Gesamteindruck. Es sind kurze Clips, oft aus dem Zusammenhang gerissen, die sich millionenfach verbreiten. Häufig direkt von den Kampagnenteams zusammengeschnitten und gestreut. Nicht nur Republikaner, auch Demokraten beherrschen dieses Spiel.

Aber der TV-Auftritt birgt nicht nur Gefahren. Er bietet auch jede Menge Chancen. Für Kamala Harris geht es nach wie vor darum, aus dem Schatten von Joe Biden zu treten und sich den Wählerinnen und Wählern vorzustellen. Diejenigen auf ihre Seite zu ziehen, die bisher unentschieden sind. Oder jene für sich zu begeistern, die von Donald Trump zwar angewidert sind, aber in den vergangenen Monaten ernüchtert waren von der Aussicht, als einzige ernsthafte Alternative einen 81 Jahre alten Mann vorgesetzt zu bekommen.