Moskau. Russland versucht, die Anlage zu sichern. Rücken die Ukrainer weiter vor, könnte sie jedoch bald in Reichweite von Artilleriefeuer liegen.

Angst vor der Eroberung des Atomkraftwerkes Kursk durch ukrainische Truppen: Mit aller Macht will die russische Armee das Kraftwerk verteidigen. Von Panzersperren ist die Rede.  Die russische Nationalgarde Rosgwardia hat den Schutz inzwischen verstärkt. Am Donnerstag war Alexej Smirnow, der amtierende Gouverneur der Region Kursk, vor Ort, um die Lage zu überprüfen. Die Nuklearanlage liegt etwa 65 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt, nahe der Stadt Kurtschatow. Derzeit läuft das Kernkraftwerk laut dem Betreiber Rosatom normal. Rücken ukrainische Truppen aber weiter vor, dann könnte die Anlage bald schon in Artillerie-Reichweite liegen. Ein Angriff, aber auch Fehlschüsse wären dann möglich.

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Ein Treffer auf das Atomkraftwerk wäre hochgefährlich. Zwei der veralteten Reaktorblöcke sind stillgelegt, doch zwei weitere arbeiten noch. Zur Kühlung werden die Brennstäbe von Wasser umströmt. Dieses verdampft und erzeugt in Turbinen Strom. Zur Steuerung der Anlage dienen Röhren aus leicht brennbarem Graphit, die in den Reaktor bewegt werden. Für all das braucht es ununterbrochen elektrischen Strom. Hinzu kommt: Die Schutzhüllen der Reaktorblöcke sind auf vieles ausgelegt, aber nicht auf Kriegshandlungen. Wird das Kraftwerk getroffen, droht eine Explosion.

Atomkraftwerk in Ukraine: Saporischschja ist „kalt abgeschaltet“

Die Lage habe sich „deutlich verschärft“, heißt es im Pressedienst von Rosatom. In Kurtschatow wurde inzwischen ein Umspannwerk von Trümmern einer ukrainischen Drohne getroffen, so Gouverneur Smirnow. Das Atomkraftwerk war nicht betroffen. Doch laut dem Online-Portal rbc.ru habe man am 8. August „Fragmente abgeschossener Raketen auf dem Gelände des Kernkraftwerks entdeckt“. Nachprüfen lässt sich das nicht.

Am vergangenen Wochenende gingen andere Bilder um die Welt: Dichte Rauchwolken über einem der Kühltürme des von russischen Truppen besetzten Atomkraftwerkes Saporischschja. Dort stationierte Experten der internationalen Atomenergiebehörde IAEA „bemerkten dichten, dunklen Rauch“, man habe eine Explosion gehört, angeblich habe „eine Drohne einen der beiden Kühltürme des Kraftwerks getroffen“, hieß es in einer IAEA-Meldung vom vergangenen Sonntag.

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Der Brand war schnell gelöscht, weder Moskau noch Kiew meldeten erhöhte Strahlenwerte. Doch was war die Ursache? „Das Team kann auf Basis der bisherigen Erkenntnisse und Beobachtungen keine endgültigen Schlüsse über die Brandursache ziehen“, erklärte die IAEA später. Bei der Untersuchung seien keine direkten Anzeichen für Drohnenreste gefunden worden. Gleichzeitig sei es aber unwahrscheinlich, dass das Feuer zunächst am Fuß des Kühlturms ausgebrochen sei. Russland und die Ukraine beschuldigen sich gegenseitig, den Brand verursacht zu haben. Während Russland von einem Drohnenangriff spricht, vermutet die Ukraine Fahrlässigkeit oder Brandstiftung von russischer Seite. Drohte eine nukleare Katastrophe?

Mitnichten. Denn Saporischschja ist längst außer Betrieb, „kalt abgeschaltet“, wie es in der Fachsprache heißt. Die Brennstäbe befinden sich einige hundert Meter von den Kühltürmen entfernt, sie werden anderweitig gekühlt. Die Kühltürme sind ohne Funktion. Warum aber einen nutzlosen Kühlturm in Brand stecken oder schießen? Vielleicht ging es um die Bilder. Psychologische Kriegsführung nach dem Motto: Seht hier, das könnte geschehen!

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Wowtschansk: Zwischen Trümmern und Hoffnung

Im Krisenmodus

Krieg in der Ukraine: Nicht beabsichtigter Treffer auf AKW wäre möglich

Denn die Folgen einer Explosion in Kursk wären eine Katastrophe – ähnlich der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986. Genau um 1.23 Uhr und 44 Sekunden explodiert ein Reaktor der gleichen Bauart wie im Atomkraftwerk Kursk verwendet, ein verheerender Brand folgte. Keine Kriegsfolge, Schlamperei war die Ursache. Unvorstellbare Mengen an Radioaktivität wurden freigesetzt. Eine Strahlenwolke trieb über halb Europa.

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Zwei Tage später schlugen im 1200 Kilometer entfernten Kernkraftwerk Forsmark in Schweden die Alarmsysteme an. Erhöhte Radioaktivität. Hastig untersuchten die Mitarbeiter die Anlage und stellten keine Fehlfunktionen fest. Aufgrund der Windrichtung aber hatten sie einen Verdacht. Und die Nachricht war in der Welt. „Guten Abend, meine Damen und Herren! In dem sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl ist es offenbar zu dem gefürchteten GAU gekommen – dem ‚Größten Anzunehmenden Unfall‘“, berichtete die ARD-Tagesschau am 28. April 1986.

Atomkraftwerk in Kursk: Behörde warnt vor verheerenden Folgen eines Unfalls

Ganze Landstriche Europas wurden radioaktiv verseucht. Noch heute finden sich geringe Spuren an Radioaktivität aus Tschernobyl in deutschen Wäldern. Könnte das wieder geschehen? Wie sicher ist das Atomkraftwerk Kursk? „Ich habe Schätzungen gesehen, dass Treffer mit einer oder zwei Granaten vom Kaliber 150 Millimetern oder mehr ausreichen“, sagt der russische Kernphysiker Andrej Oscharowski auf dem Onlineportal fontanka.ru. „Jedes Land, auf dessen Territorium sich Kernkraftwerke befinden, ist im Falle eines bewaffneten Konflikts gefährdet.“

Ein nicht beabsichtigter Treffer wäre möglich. Doch auch die Welt in nuklearer Geiselhaft: Beide Seiten könnten zur Durchsetzung ihrer Ziele mit einem Angriff auf das Atomkraftwerk drohen, das Risiko einer radioaktiven Verseuchung des eigenen Landes eingehen. Der eindringliche Appell von IAEA-Chef Rafael Grossi: „Zu diesem Zeitpunkt möchte ich an alle Seiten appellieren, sich maximal zurückzuhalten, um einen nuklearen Unfall mit potenziell ernsten Strahlungsfolgen zu vermeiden.“