Berlin. Auch wenn der große Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen richtig gewesen sein mag: Er darf auf keinen Fall Schule machen.


Selten lässt einen eine politische Entscheidung derart zwiegespalten zurück. Selten wird ein moralisches Dilemma derart offensichtlich. Und selten bleibt ein derart bitterer Nachgeschmack. Der größte Gefangenenaustausch zwischen dem Westen und Russland seit Ende des Kalten Krieges ist das Ergebnis eines komplexen Abwägungsprozesses: moralische und juristische Gerechtigkeit auf der einen, pragmatische Politik auf der anderen Seite.

Schlüsselakteur des 26 Personen umfassenden Gefangenenaustausches ist der russische Auftragskiller Vadim Krassikow. Dass der in Deutschland zu lebenslanger Haft verurteilte „Tiergartenmörder“ in Diensten des Kremls nach nur zweieinhalb Jahren Gefängnis freigelassen wurde, ist ein extrem hoher Preis.

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Bundeskanzler Olaf Scholz war aus mehreren Gründen bereit, ihn zu zahlen. Zum einen, um Deutsche, die in russischen Kerkern wegen vorgeschobenen Gründen wie Spionage oder Drogenbesitz einsaßen, nach Hause zu holen. Zum anderen, weil russische Regime-Kritiker wie Wladimir Kasa-Mursa freikamen. Dies ist die moralische Komponente der Scholzschen „Zeitenwende“-Politik, die die Ukraine in ihrem Kampf um Unabhängigkeit und Freiheit gegen Russland massiv unterstützt.

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Der vermutlich wichtigste Grund für Scholz‘ Zustimmung dürfte jedoch der Schulterschluss mit US-Präsident Joe Biden sein. „Für Sie werde ich das machen“, soll der Kanzler Biden im Februar bei einem Gespräch im Weißen Haus gesagt haben. Der Amerikaner hatte großes Interesse an einem Gefangenenaustausch, um US-Bürger wie den unter fadenscheinigen Spionage-Vorwürfen verhafteten Wall-Street-Journal-Reporter Evan Gershkovich oder den ehemaligen Soldaten Paul Wheelan aus russischer Haft zu befreien.

Michael Backfisch ist freier Autor für internationale Politik.
Michael Backfisch ist freier Autor für internationale Politik. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Der Gefangenenaustausch beschert auch Scholz schöne Bilder

Scholz hatte offenbar das Gefühl, Biden aufgrund der exzellenten transatlantischen Beziehungen etwas zurückgeben zu müssen. Beide verfolgen eine kongruente Ukraine-Politik. Die Eckpunkte: maximale militärische Hilfe für Kiew so lange wie möglich, keine Verwendung westlicher Raketen für Ziele im russischen Hinterland, keine Eskalation. Auch die Bereitschaft der Schutzmacht Amerika, ab 2026 Marschflugkörper in Deutschland gegen die russische Bedrohung zu stationieren, hat wohl mitgespielt.

Die Heimkehr der Gefangenen beschert dem Bundeskanzler positive Bilder in einer Zeit, in der die Ampel-Koalition durch das Gezerre um den Haushalt erneut in Turbulenzen gerät. Das Gleiche gilt für die andere Seite des Atlantiks. Die Rückkehr der US-Häftlinge gibt sowohl Biden als auch der demokratischen Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris Auftrieb. Und erhöht vielleicht die Aussicht, dass in Washington in den kommenden Jahren weiter eine konstruktive Partnerin sitzt. Auch dies mag ein Hintergedanke von Scholz gewesen sein.

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Dennoch: Die Freilassung des „Tiergarten-Mörders“ widerspricht dem Gerechtigkeitsgefühl von Schuld und Sühne. Der russische Präsident Wladimir Putin holte Krassikow mit Ehrengarde vom Flughafen ab. Er pries den eiskalten Mörder als „Patrioten“. Das ist nicht nur menschenverachtend. In der zynischen Weltsicht Putins steckt dahinter ein Rekrutierungsprogramm für Staatsterroristen aller Art. Die Botschaft: „Welche schmutzige Geschäfte ihr auch immer erledigt, wir holen euch raus.“ Der Kremlchef begreift dies als Freifahrtschein für willkürliche Verhaftungen und politische Erpressung.

Auch wenn man schweren Herzens zu dem Urteil kommt, dass der Gefangenenaustausch im politischen Gesamtkontext richtig gewesen sein mag: Er darf auf keinen Fall Schule machen. Putin würde dies gnadenlos ausnutzen.

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