Moskau. Für viele russische Frauen wird der Ukraine-Krieg immer unerträglicher. Sie wollen ihre Männer und Söhne zurück. Der Kremlchef laviert.

Sie wollten die ganze Nacht vor dem russischen Verteidigungsministerium ausharren, die Frauen mit ihren Kindern hatten sogar Camping-Ausrüstung mitgebracht. Eine kleine Gruppe zwar, doch sie forderten die Rückkehr ihrer Männer aus dem Ukraine-Krieg. Zu sehen war die Aktion in der ersten Julihälfte auf Bildern im Online-Dienst Telegram. Eigentlich wollten die Frauen den neuen russischen Verteidigungsminister Andrej Beloussow sprechen. Doch der kam nicht vor die Tür, stattdessen habe ein Vertreter des Ministeriums ihnen „soziale Hilfen vorgeschlagen“, sagte eine Teilnehmerin.

Es sind eher kleine Demonstrationen, die immer wieder stattfinden – nicht nur in Moskau. Doch für Kremlchef Wladimir Putin ist die neue Protestbewegung unangenehm. Ehefrauen und Mütter, die nicht gegen den Krieg in der Ukraine aufstehen, sich sehr wohl aber um ihre Männer und Söhne an der Front sorgen.

Lesen Sie auch: Putins Motive: Warum hat Russland die Ukraine überfallen?

Noch bis Anfang des Jahres waren Angehörige von Soldaten in der Telegram-Gruppe „Put Domoj“ – zu Deutsch „Weg nach Hause“ – organisiert und riefen fast wöchentlich zu Demonstrationen auf. Ende Mai stuften die Behörden die Gruppe als „ausländischen Agenten“ ein, was ihnen eine Verfolgung der Organisation erlaubt. Die vorm Ministerium protestierenden Frauen gaben an, nicht Teil von „Put Domoj“ zu sein. Es gibt inzwischen viele derartige Frauengruppen, in allen Teilen Russlands.

Ukraine-Krieg: Demonstrationen von Frauen nicht nur in Moskau

Die Bewegung entstand im Sommer 2023. Zuvor hatten sich die Angehörigen von Soldaten, die von der Teilmobilisierung im September 2022 betroffen waren, in vielen Online-Chats ausgetauscht. „Im August stellten die anderen Ehefrauen der Mobilisierten und ich fest, dass wir uns in der Gruppe nur unterhielten und über Strumpfhosen, Socken, Unterhosen und Gerüchte über die Rückkehr der Männer diskutierten“, erzählt eine der Aktivistinnen auf dem Online-Portal cherta.media. „Put Domoj“ koordinierte die Chats. Zunächst war die Bewegung politikfern, nicht regierungskritisch.

Wladimir Putin, Präsident von Russland, versucht die Proteste der Frauen mit Versprechungen kleinzuhalten.
Wladimir Putin, Präsident von Russland, versucht die Proteste der Frauen mit Versprechungen kleinzuhalten. © dpa | ALEXANDER KAZAKOV

Doch im November trat eine Gruppe von Frauen erstmals öffentlich in Moskau auf, mit Plakaten auf einer Kundgebung der Kommunistischen Partei. Die Bewegung wuchs, Zehntausende Abonnenten hatte der Telegram-Kanal. Im Dezember veröffentlichte „Put Domoj“ ein Manifest, die Frauen forderten die Demobilisierung ihrer Männer. Und sie machten die Erfahrung, dass ihre Forderungen politisch verpufften. Kriegsgegner in Russland verspotteten sie als systemtreu, Kriegsbefürworter als „Nawalnyisten“, nach dem im Straflager verstorbenen Kremlkritiker Alexej Nawalny.

Frauen und Mütter von Soldaten protestieren in Moskau

weitere Videos

    Und im Staatsfernsehen wurde berichtet, die Bewegung sei von ausländischen Geheimdiensten für subversive Aktivitäten ins Leben gerufen worden. Jetzt verstehen sich die Frauen mit ihren Forderungen durchaus als politisch. Immer wieder sind sie seit vergangenem Jahr auf der Straße, nicht nur in Moskau. Anfang April etwa wurde in Sankt Petersburg eine 51-jährige Frau festgenommen. Sie legte an einem Denkmal Nelken nieder – zusammengebunden mit einem grünen Band mit der Aufschrift „Demobilisierung“.

    Frau eines russischen Soldaten: „Wie geht es ihm, lebt er noch?“

    Im Juni berichtete die „Moscow Times“ über eine Demonstration vor dem Verteidigungsministerium in Moskau. Die Frauen kamen mit kleinen Kindern im Kinderwagen. Eine Frau habe auf ihre kleine Tochter gezeigt und gesagt: „Sehen Sie sie? Ich habe sie geboren, und drei Monate später haben sie mir meinen Mann weggenommen.“ Am 8. Juli feierte Russland den Tag der Familie. Frauengruppen veröffentlichten im Netz Fotos von Frauen, deren Männer, Söhne und Väter im Krieg sind. Jeden Tag denke sie an ihren Vater an der Front, sagt die Frau. „Wie geht es ihm, lebt er noch?“

    Am 8. Juli feierte Russland den Tag der Familie. Einige Menschen nutzten den Anlass, um gegen die Zwangsrekrutierungen zu demonstrieren.
    Am 8. Juli feierte Russland den Tag der Familie. Einige Menschen nutzten den Anlass, um gegen die Zwangsrekrutierungen zu demonstrieren. © picture alliance/dpa/TASS | Mikhail Tereshchenko

    Vor einer erneuten Mobilmachung von Reservisten haben nach wie vor viele Menschen in Russland Angst. Putin beteuert zwar, die Mobilisierung sei definitiv „am Ende“, aber ein entsprechendes Dekret ist bis heute nicht aufgehoben. Gegen gute Gehälter gelingt es der Armee, viele neue Vertragssoldaten anzuwerben. Jeden Tag kämen 1000 bis 1500 Menschen, um den Vertrag zu unterzeichnen, zitierte das Online-Medium RBC Putin. Rund 30.000 Soldaten seien es pro Monat, das bestätigt auch ein hochrangiger Nato-Vertreter gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.

    Denkt Putin an eine Demobilisierung, wie sie die Frauen fordern? „Die Militäroperation selbst läuft“, antwortete der Präsident vor einiger Zeit bei einem Treffen mit Offizieren auf eine entsprechende Frage. „Natürlich wird es irgendwann notwendig sein, die Menschen schrittweise nach Hause zurückzubringen, und dieses Thema wird im Verteidigungsministerium diskutiert.“ Eine Entscheidung ist noch nicht gefallen. Vertreter westlicher Staaten gehen aufgrund britischer Geheimdienstinformationen davon aus, dass täglich mehr als 1000 russische Soldaten im Krieg fallen.

    Die Frauen, die für die Rückkehr ihrer Männer aus dem Krieg kämpfen, wollen weitermachen. „Für wen halten Sie uns? Für einen Haufen dummer Frauen, die nur dazu in der Lage sind, wie der Staat es von uns verlangt, zu gebären und das ist alles?“, fragt eine von ihnen. „Viele Kinder hörten auf zu reden, nachdem ihr Vater weggebracht wurde. Viele Familien zerbrechen, einige sind nicht bereit zu warten – andere sind nicht bereit, so weiterzuleben.“