Bochum. Nach Lügde berät ein Bochumer Professor den Landtag. Er hat Empfehlungen, die Arbeit der Jugendämter verbessern und Missbrauch verhindern sollen.
Jahrelang wurden auf einem Campingplatz in Lügde zahlreiche Kinder sexuell missbraucht. Während der Ermittlungsarbeiten wurde Kritik laut, dass Behörden versagt hätten – gegen Polizei und Jugendämter wird ermittelt. Die Kinderschutzkommission des NRW-Landtages beschäftigt sich damit, wie Fälle wie der in Lügde, aber auch in Münster oder Bergisch Gladbach verhindert werden können. Dirk Nüsken, Professor an der Evangelischen Hochschule in Bochum, hat als wissenschaftlicher Leiter mit der Stiftung SPI und der Direktorin Annette Berg ein Gutachten zu Qualitätsaspekten der Jugendämter in NRW vorgelegt.
Herr Prof. Nüsken, innerhalb eines halben Jahres haben Sie das Gutachten vorgelegt, das Ende Juni präsentiert wurde.
Der Zeitraum war sehr ambitioniert. In nur sechs Monaten Jugendämter zu bewegen, sich mit ihren Strukturen und Prozessen analysieren zulassen, war eine große Herausforderung. Inhaltlich geht es um Personalstrukturen, Qualitätsmanagement oder Konzepte zu Fort- und Weiterbildung und die Frage wie angemessen diese Elemente realisiert sind.
In NRW gibt es über 180 Jugendämter. Wie bekommt man alle unter einen Hut?
Die Vielzahl bringt Unterschiede mit sich, diese fangen bei der Größe an. Das eine Jugendamt hat mehrere hundert Fachkräfte im Sozialdienst, das andere sieben oder acht – um einmal ein deutliches Beispiel zu nennen. Uns war es wichtig, die unterschiedlichen Größen und soziostrukturellen Belastungen in unserem Gutachten abzubilden. Wir haben aus jedem Typus der NRW-Jugendämter eines gewählt, um größtmögliche Repräsentanz zu schaffen – wenn auch keine Repräsentativität, was aufgrund der Kürze der Zeit gar nicht möglich ist.
Was muss sich bei den Jugendämtern in NRW verändern?
Im Anschluss und auf Grundlage unserer Analysen empfehlen wir, dass die Kommunen verpflichtet werden sollten, Kinderschutzbedarfspläne aufzustellen. Das kann man in etwa mit der Feuerwehr vergleichen. Es wird eine gewisse Menge an Ausstattung und Personal gebraucht, um in kurzer Zeit am Brandort zu sein. Das lässt sich übertragen. Solche Pläne müssen nicht überall gleich sein, sie sollten aber nach gewissen Kriterien ausgerichtet sein, um die Risiken für Kinder und Jugendliche zu minimieren.
Was empfehlen Sie außerdem?
Wir empfehlen der Landesregierung sogenannte Expertise-Cluster einzurichten. Die haben wir uns von den Wissenswerkstätten Jugend in den Niederlanden abgeschaut. Sie sollten in den einzelnen Regionen angesiedelt werden und dienen dazu, zu Strukturen zu beraten und Konzepte auszutauschen. Fachpersonal aus Wissenschaft und Praxis sollte hier zur Verfügung stehen, auf das die Jugendämter bei schwierigen Fällen zurückgreifen können. Ganz nach dem Motto: „Jugendämter nicht alleine lassen.“ Kleinere Jugendämter könnten so außerdem vom Knowhow der größeren profitieren.
Das klingt so, als wenn dafür mehr Personal und vor allem mehr Gelder gebraucht werden.
Das kann an der ein oder anderen Stelle durchaus der Fall sein. Das Land wird mit in die Finanzierung hineingehen müssen. Kommunale Gesamtkonzepte zum Kinderschutz – unsere dritte Empfehlung – können hingegen von den Kommunen selbst organisiert werden.
Was bedeutet das?
Die tragisch verlaufenen Fälle in den vergangenen Jahren haben gezeigt, dass es häufig Anzeichen gab, die nicht oder nicht nur nur beim Jugendamt vorlagen. Institutionen wie z. B. Arbeitsagentur, Sozial- oder Veterinäramt und auch die freien Träger und Institutionen, die in Kontakt mit Kindern stehen, müssen deshalb mit eingebunden werden. Sie müssen wissen, mit welchen Informationen sie sich an wen wenden können. Das gibt es bisher nur in bei sehr wenigen Jugendämtern.
Wie realistisch schätzen Sie die Umsetzung der Empfehlungen ein?
Zur Person: Prof. Dirk Nüsken
Dirk Nüsken lehrt seit 2009 an der Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe (EvH) in Bochum, wo er in den 1990er Jahren das Studium zum Diplom-Sozialpädagogen absolvierte. Es folgten je ein Studium in Münster und in Bielefeld. Von 2004 bis 2009 war Nüsken stellvertretender Geschäftsführer des Instituts für soziale Arbeit in Münster. Er hat bisher unter anderem zu den Themen Präventionsmaßnahmen der Bundesländer im Bereich Schule bezüglich der Hilfen zur Erziehung oder zur individuellen Förderung in Ganztagsschulen geforscht.
Das entscheidet sich in der Politik und hängt auch davon ab, wie sehr man seitens der Kommission den Landtag überzeugen kann, Gelder in die Hand zu nehmen. Nach der Sommerpause geht es in die politische Bewertung. Für das Expertise-Cluster wird es wohl einen Zeitraum von zwei bis fünf Jahren brauchen.
Hätte es Konzepte wie diese schon früher gegeben – hätten die Fälle in Lügde, Münster oder Bergisch Gladbach verhindert werden können?
Die Antwort kann nur lauten: Eine Garantie gibt es nicht. Wir können und dürfen nicht in jedes Kinderzimmer dieses Landes eine Überwachungskamera stellen. Aber alles was getan werden kann, sollte getan werden, um solche Fälle möglichst unwahrscheinlich zu machen und so schnell wie möglich zu reagieren, wenn etwas passiert.
Nicht alle der elf Jugendämter sind bei Ihrem Gutachten nur gut weggekommen.
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Wir haben keine Einzelbewertungen vorgenommen. Die Jugendämter haben sich wirklich in die Karten schauen lassen, weil sie die Gewähr hatten, dass wir keine Rankings darstellen. Wir haben nicht mit Kritik gespart, doch das haben sie als guten Spiegel gesehen, der in kommunalen Diskursen hilft. Kritisiert wurde von uns zum Beispiel die Summe, die pro Vollzeitstelle im Jahr für Fort- und Weiterbildungen ausgegeben wurde. Sie lag im Schnitt bei 412 Euro, definitiv zu wenig – und das obwohl in den Jugendämtern eine der wichtigsten Aufgaben durchgeführt wird: die Sicherung des Kinderschutzes
Das ganze Gutachten der Kinderschutzkommission finden Sie hier. (Externer Link)