Kiew.. In rasendem Tempo übernehmen die Gegner des abgesetzten Präsidenten Janukowitsch in der Ukraine die Macht. Das gesamte politische System steht auf dem Prüfstand. Janukowitsch versucht sich offenbar ins Ausland abzusetzen. Übergangspräsident Turtschinow sieht das Land am Rande des Bankrotts.
Die Ukraine steht nach den Worten von Übergangspräsident Alexander Turtschinow am Rande des Staatsbankrotts. "Die Ukraine ist dabei, in den Abgrund zu rutschen, sie befindet sich am Rande einer Zahlungsunfähigkeit", sagte Turtschinow am Sonntag in einer Ansprache an die Nation. Er machte den gestürzten Präsident Viktor Janukowitsch und dessen Regierungschef Mykola Asarow für die desolate Lage verantwortlich. Diese hätten "das Land ruiniert".
Turtschinow hat unterdessen am Sonntag einen Westkurs der Ex-Sowjetrepublik angekündigt und zugleich die Wichtigkeit der Beziehungen zum Nachbarn Russland betont. "Vorrang hat für uns, zum Kurs der Annäherung an Europa zurückzukehren", sagte Turtschinow in einer Ansprache an die Nation. "Wir müssen in den Kreis der europäischen Länder zurückkehren." Zugleich sagte der Vertraute von Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko, die Ukraine sei zu einem "neuen, gleichberechtigten und nachbarschaftlichen" Verhältnis mit Russland bereit. Das Parlament hatte den 49-Jährigen am Vormittag zum vorläufigen Staatschef bestimmt.
Janukowitsch wollte sich offenbar Flucht erkaufen
Unterdessen ist offen, wo sich Janukowitsch befindet. Bis Samstag war er noch Präsident der Ukraine - jetzt ist er auf der Flucht. Viktor Janukowitsch und Mitglieder seiner Regierung fürchten offenbar um ihre Sicherheit und versuchten sich nach Angaben der Opposition, am Wochenende ins Ausland abzusetzen. Janukowitsch wollte die Ukraine demnach am Samstag mit einer Privatmaschine verlassen und nach Russland fliegen. Doch Grenzschützer vereitelten dies nach eigenen Angaben.
Janukowitsch habe auf dem Flughafen von Donezk, seiner Heimatstadt im überwiegend russischsprachigen Teil der Ukraine, versucht, ein Flugzeug nach Russland zu besteigen, sagte der Sprecher des Grenzschutzes, Serguii Astachow, am Sonntag. Bewaffnete Männer hätten Geld geboten, um eine Starterlaubnis für die Privatmaschine zu bekommen. Das sei von den Beamten aber abgelehnt worden.
AnalyseAuch Ex-Minister und hoher Justizbeamter versuchten zu fliehen
Wenig später seien zwei gepanzerte Fahrzeuge zum Flugzeug gerollt, sagte Astachow weiter. Janukowitsch sei in eines von ihnen gestiegen und habe den Flughafen verlassen. Während einer Parlamentssitzung am Sonntag verlangten Abgeordnete, Aufschluss über Janukowitschs Aufenthaltsort zu erhalten. Doch eine Antwort erhielten sie zunächst nicht.
Generalstaatsanwalt Viktor Pschonka und dem für Steuern zuständigen Minister Olexander Klimenko ging es am Donezker Flughafen nicht anders als Janukowitsch, zu dessen Lager sie gehören. Übereinstimmenden Angaben zufolge versuchten sie dort vergeblich, sich "ins Ausland" abzusetzen. Ihre Leibwächter schossen demnach auf Grenzschützer, sodass ihnen die Flucht gelang.
Janukowitsch-Partei sagt sich von Ex-Machthaber los
Der neue Übergangsinnenminister Arsen Awakow sagte, auch sein vom Parlament abgesetzter Vorgänger, Vitali Sachartschenko, und andere Minister seien im Flughafen von Donezk "gesehen worden". Der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko erklärte, er habe mit dem weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko telefoniert und ihn gebeten, Sachartschenko und den Janukowitsch nahe stehenden Oligarchen Serguii Kurtschenko an die Ukraine auszuliefern. Lukaschenko habe aber versichert, dass sich die beiden nicht in Weißrussland befänden.
Janukowitschs Protz-Palast
Janukowitschs Partei der Regionen warf dem abgesetzten Präsidenten unterdessen "kriminelle Handlungen" vor und sagte sich von ihm los. Janukowitsch habe die Ukraine "verraten" und das Land an den "Rand des Abgrunds" geführt.
Machtwechsel in Kiew: Timoschenko frei, Janukowitsch abgetaucht
Stunde Null in Kiew: Nach dem Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch hat die Opposition um die befreite Julia Timoschenko die Macht in der Ukraine übernommen. Im Eilverfahren besetzten die bisherigen Regierungsgegner die wichtigsten Posten. Das Parlament bestimmte am Sonntag seinen neuen Chef Alexander Turtschinow zugleich zum Übergangspräsidenten. Die Abgeordneten beschnitten die Vollmachten des Staatschefs und setzten vorgezogene Präsidentenwahlen für den 25. Mai an. Dann will auch die Ex-Regierungschefin Timoschenko kandidieren.
Janukowitsch lehnte einen Rücktritt ab. Der prorussische Politiker, der nach Angaben des Grenzschutzes das Land verlassen wollte, sprach von einem "Staatsumsturz" und "gesetzeswidrigen" Parlamentsbeschlüssen. Sein Aufenthaltsort war unbekannt. Tausende Schaulustige inspizierten seine Residenz bei Kiew.
"Kampf für die Freiheit der Ukraine"
"Die Diktatur ist gestürzt", verkündete die 53-Jährige Timoschenko nach ihrer Freilassung. Sie reiste sofort zum zentralen Ort der Revolution, dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) in Kiew. Im Rollstuhl forderte die kranke Politikerin vor mehr als 100.000 Menschen in einer emotionalen Rede, den "Kampf für die Freiheit" der Ukraine bis zum Ende zu führen.
Das Parlament hatte zuvor die Entlassung von Janukowitschs Erzfeindin nach rund zweieinhalb Jahren umstrittener Haft angeordnet. Sie war im Oktober 2011 wegen Amtsmissbrauchs trotz internationaler Proteste zu sieben Jahren Straflager verurteilt worden. In dem nach Ansicht internationaler Beobachter politisch motivierten Verfahren wurde ihr ein Abkommen mit Russland über Gaslieferungen zum Nachteil der Ukraine zur Last gelegt.
Bundeskanzlerin Angela Merkel gratulierte Timoschenko in einem Telefonat zu ihrer Freilassung. Die CDU-Chefin halte die Rückkehr der 53-Jährigen in die Politik für einen der wichtigsten Faktoren zur Stabilisierung der Lage in der Ex-Sowjetrepublik, teilte Timoschenkos Vaterlandspartei (Batkiwschtschina) mit. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton mahnte maßvolles Handeln der neuen Machthaber an.
Festgenommene Regierungsgegner wieder auf freiem Fuß
Barrikadenkämpfer kontrollierten das Regierungsviertel in der Hauptstadt Kiew. Auch die Sicherheitskräfte stellten sich auf die Seite der Sieger. Das Parlament soll bis Dienstag einen neuen Regierungschef wählen und sich auf ein "Kabinett des nationalen Vertrauens" einigen.
Der kommissarische Innenminister Arsen Awakow teilte mit, 64 bei Protesten festgenommene Regierungsgegner seien auf freien Fuß gesetzt worden. Bei blutigen Straßenkämpfen zwischen Sicherheitskräften und Regierungsgegnern in Kiew waren seit Dienstag mindestens 82 Menschen auch durch Scharfschützen getötet worden.
Der bisherige Regierungschef Nikolai Asarow war Ende Januar auf Druck der Opposition zurückgetreten. Seine Minister waren seither nur noch kommissarisch im Amt. Sie wurden am Sonntag offiziell vom Parlament gefeuert. Die bisherige Regierungspartei machte Janukowitsch und seine engsten Vertrauten in einer Mitteilung persönlich für die Lage im Land verantwortlich. Auch Russland distanzierte sich von seinem bisherigen Partner. Mehrere ukrainische Staatsfunktionäre setzten sich ins Ausland ab oder wurden an der Flucht gehindert.
Hoffnung auf Julia Timoschenko
Nach der Rückkehr Timoschenkos drückte auch Russland seine Hoffnung auf eine stabilere Lage im Nachbarland aus. Die erfahrene Politikerin könnte die Situation in Kiew beruhigen helfen, sagte der einflussreiche Abgeordnete Leonid Sluzki in Moskau. Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen forderte angesichts der politischen Neuordnung in der Ukraine die Menschen dazu auf, nun friedlich die Zukunft ihres Landes zu bestimmen.
Erst am Freitag hatten sich Janukowitsch und die Oppositionsführer um Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko auch unter Vermittlung von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier auf einen Kompromiss geeinigt. Janukowitsch sagte unter anderem Neuwahlen spätestens im Dezember zu. Vor allem dieser Punkt sorgte für Empörung bei vielen Regierungsgegnern, die den 63-Jährigen persönlich für die tödlichen Schüsse auf Demonstranten verantwortlich machen. Noch in der Nacht zum Samstag besetzten sie das Regierungsviertel.
Übergangspräsident Turtschinow sagte, die wirtschaftliche Lage der Ukraine sei "katastrophal". Der Internationale Währungsfonds IWF zeigte sich bereit, das fast bankrotte Land zu unterstützen. Nötig seien aber legitimierte Gesprächspartner, sagte IWF-Chefin Christine Lagarde in Sydney beim Treffen der G20-Finanzminister.
Auf frisches Geld aus Russland muss die Ukraine hingegen weiter warten. Der russische Finanzminister Anton Siluanow bekräftigte einmal mehr, dass Moskau zunächst die Regierungsbildung abwarten wolle, bis es von Kremlchef Wladimir Putin zugesagte Milliardenhilfen weiter auszahle.
Janukowitsch hatte Ende November auf Druck Russlands ein historisches Abkommen mit der EU über engere Zusammenarbeit auf Eis gelegt - der Auslöser für die Proteste, die schließlich zu seinem Sturz führten. (afp/dpa)