Essen. Sigmar Gabriel fordert die Abschaffung der Hausaufgaben und einen flächendeckenden Ganztagsunterricht. Dort sollen die Kinder unter Aufsicht ihre Übungen machen. So will er für mehr Chancengleichheit sorgen. Schon jetzt gibt es Schulen im Ruhrgebiet, die versuchen, die Schüler zu entlasten.
Beim Thema Hausaufgaben ist der Politik die Aufmerksamkeit gewiss: Im Prinzip kann jeder mitreden, jeder war oder ist irgendwann betroffen.
Doch geht es nach Sigmar Gabriel, dann könnte es mit dieser Selbstverständlichkeit bald vorbei sein. Im Wahlkampf hat der SPD-Chef die Massentauglichkeit des Themas entdeckt und gefordert, die Hausaufgaben abzuschaffen und die Kinder nachmittags gemeinsam im Rahmen eines flächendeckenden Ganztagsunterrichts in der Schule üben zu lassen.
So will Gabriel etwas gegen die Ungerechtigkeit im Schulsystem tun, durch die Akademikerkinder bessere Chancen auf einen Schulerfolg haben. Zu diesem Schluss kommen jedenfalls mehrere Studien sowie die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung).
Wenn Eltern unsicher in der deutschen Sprache seien, könnten sie nicht im Vorbeigehen erkennen, ob die Grammatikaufgaben richtig sind, erklärt der Dortmunder Bildungsforscher Ernst Rösner. Insofern klingt Gabriels Forderung nach Ganztagsschulen ohne Hausaufgaben konsequent.
Eltern, Verbände und Lehrer wehren sich
Doch Eltern, Lehrer und Verbände wehren sich gegen den pauschalen Zusammenhang von Hausaufgaben, Ganztagsschule und Chancengleichheit. „Das ist populistisch“, sagt Ralf Leisner, Vorsitzender der Landeselternschaft Gymnasien in NRW. So wünschenswert reine Ganztagsschulen und Entlastung für die Schüler seien: „Es ist blauäugig, die Eltern heraushalten zu wollen.“ Zu groß sei die Angst vor dem Absturz der Kinder, ergänzt der Dortmunder Bildungsforscher Rösner.
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Beim Oberhausener Elsa-Brändström-Gymnasium ist dennoch der Verzicht auf Hausaufgaben bereits Programm. Nach einer längeren Testphase verkündete die Ganztagsschule vor einem Jahr, nur noch in Doppelstunden zu unterrichten, um 20-minütige Übungsphasen einbauen zu können, die die Hausaufgaben ersetzen. Gibt es Schwierigkeiten, bieten Lehrer weitere Übungen an. „Die meisten Schüler sind mit dem System zufrieden“, sagt Schulleiterin Brigitte Fontein. Schließlich sei der Alltag entlastet.
Auf die Leistungen habe die Umstellung keinen nennenswerten Einfluss. Wie groß der Erfolg sei, das hänge allerdings auch vom Lehrer ab, sagt die Schulleiterin, die in der Umstellung tatsächlich einen Schritt zu mehr Chancengleichheit sieht – wenngleich auch die Oberhausener Gymnasiasten nicht einfach den Rucksack am Nachmittag in die Ecke pfeffern können. Denn Vokabeln lernen – am besten mit Hilfe der Eltern – bleibt auch ihnen nicht erspart.
Andere Schulen wollen ihre Schüler auch entlasten
Auch andere Schulen sind dabei, die Kinder zu entlasten. Offiziell halten sie zwar an Hausaufgaben wie Halbtagsschule fest. Die Realität der Schulzeitverkürzung zwingt sie allerdings zu tageweisem Nachmittagsunterricht und den damit verbundenen Verzicht auf Hausaufgaben. Beispiel dafür ist die Essener Goetheschule im soliden Stadtteil Bredeney. Ob ein kompletter Ganztagsunterricht eingeführt werde, dazu müsse jede Schule selbst finden, erklärt die stellvertretende Schulleiterin Nadine Lietzke-Schwerm. Letztlich sei auch die Frage, was zur Klientel passe.
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Bleibt ein Blick nach Dortmund, auf die Geschwister-Scholl-Gesamtschule. Dort ist besagte Klientel gemischter. Im Ganztagsbetrieb werden Kinder mit und ohne Förderbedarf gemeinsam unterrichtet, es sind immer zwei Lehrer im Klassenraum anwesend. Beste Voraussetzungen also für eine Schule in Gabriels Sinn.
Doch: „Ohne Hausaufgaben geht es nicht“, sagt Schulleiter Klaus Zielonka. „Ohne Eltern auch nicht.“ Zwar lehnt er „stumpfes Päckchenrechnen“ ab, doch manche Dinge müsse man knacken. Ähnlich wie das Essener Gymnasium setzt die Dortmunder Gesamtschule auf Methodentraining, Elternarbeit und die Selbstständigkeit der Schüler – Begriffe, die auch an der Oberhausener Reformschule ohne Hausaufgaben geläufig sind.
Was zeigt: Die klassische Halbtagsschule, die Kinder (und Eltern) an den häuslichen Schreibtisch zwingt, ist im Sekundarbereich nicht mehr das Maß aller Dinge. Sei es, weil die Kinder mit den langen Stundenplänen durch die Schulzeitverkürzung überfrachtet werden, sei es, weil die Schulen sozial schwache Kinder unterstützen wollen. Würde sich der SPD-Chef nur ein wenig in der Schullandschaft auskennen, hätte er erkannt, dass die Schulen aus purer Notwendigkeit und fern jeder Ideologie bereits auf dem Weg sind.