Essen. Wieder NRW, wieder ein Fall von sexuellem Missbrauch an Kindern,d er sprachlos macht. Was für Kinderschützer auf Wermelskirchen nun folgen muss.

Münster, Bergisch Gladbach, Lügde – jetzt Wermelskichen: Wieder erschüttert ein Missbrauchskomplex NRW. Marcus R., der sich als Babysitter Zugang zu Kindern verschaffte und seine Schützlinge in den Häusern der Familien missbraucht haben soll, hat offenbar eine schier unglaubliche Anzahl von Missbrauchs-Darstellungen gesammelt, die selbst erfahrene Ermittler „bis ins Mark“ erschütterten. Die Polizei ermittelt gegen mindestens 73 Tatverdächtige, auch weil R. penibel Buch über seine Daten geführt hat. Landesinnenminister Herbert Reul (CDU) nahm den Fall zum Anlass, um erneut zu fordern, dass der Datenschutz im Netz gelockert werden müsse, um Täter schneller zu fassen.

Stephanie Weltmann sprach mit Joachim Türk, früherer Chefredakteur der Rhein-Zeitung und seit 2019 als Digitalexperte Mitglied im Bundesvorstand des Deutschen Kinderschutzbundes, darüber, wo der Datenschutz Täter schützt, warum es ein kinderpornografisches Archiv braucht und was Kinder in Grundschulen und Kitas lernen sollten.

Herr Türk, NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sagt, im Kampf gegen Kinderpornografie sei Datenschutz Täterschutz. Stimmen Sie ihm zu?

Das ist zu pauschal. Datenschutz ist ein Grundrecht und ein Kinderrecht. Es laden bereits unglaublich viele Daten beim Bundeskriminalamt und den Polizeidienststellen. Sie kommen überwiegend aus den USA. Allein das Nationale Zentrum für vermisste und ausgebeutete Kinder (NCMEC) in den USA schickt jährlich rund 80.000 Meldungen an das BKA, die hier ausgewertet und bei Bedarf weitergeleitet werden.

Woher stammen diese Meldungen?

In den USA haben sich große Portale wie Facebook oder Instagram freiwillig verpflichtet, unverschlüsselte und damit öffentlich zugängliche Bilder und Daten nach Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Kinder scannen und zu melden. Vom NCMEC werden die Daten der Strafverfolgung übermittelt. 2020 gab es 20 Millionen Funde allein bei Facebook. Auch in der EU können Anbieter freiwillig Inhalte aufspüren, entfernen und an das NCMEC melden. Das macht einen erheblichen Anteil aus.

Wo liegt dann das Problem?

Uns reicht die Freiwilligkeit nicht. Wir brauchen die Pflicht, dass alle Austauschplattformen alle hochgeladenen Inhalte nach Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Kinder scannen. Das würde dann alle so genannte Filehoster und Plattformen umfassen, also Anbieter, über die man online Daten speichern und abrufen kann.

Joachim Türk gehört seit 2019 zum Bundesvorstand des Deutschen Kinderschutzbundes. Er besucht auch Schulen, um mit Eltern über Gefahren im Netz für ihre Kinder zu sprechen.
Joachim Türk gehört seit 2019 zum Bundesvorstand des Deutschen Kinderschutzbundes. Er besucht auch Schulen, um mit Eltern über Gefahren im Netz für ihre Kinder zu sprechen. © Kinderschutzbund | Uwe Nölke

Damit würden auch meine Urlaubsbilder gescannt.

Aus unserer Sicht ist das ein legitimer Einschnitt. Die Trefferquote ist bei diesen Scans sehr hoch, vor allem mit der so genannten Hashtechnik, mit der bekanntes Material identifiziert wird. Die Suche nach neuen Bildern und Videos gestaltet sich schwieriger, aber sie ist nötig. Nachdem die automatisierte Suche in der EU 2021 wieder auf freiwilliger Basis erlaubt wurde, ist die Zahl der Meldungen um 30 Prozent gestiegen. Hinter jedem Bild steckt ein Fall von Kindesmissbrauch. Das sollte es uns wert sein, diesen Einschnitt hinzunehmen.

Wer blockiert ihn?

Das ist eine Rechtsgüterabwägung. Ich kann die Volksvertreterinnen und Volksvertreter verstehen, dass sie sich schwer damit tun, das Grundrecht auf die Integrität der persönlichen Daten zu bescheiden. Ich halte das im Falle der Server-Scans aber für politisch durchsetzbar.

Könnten die Polizeibehörden denn auf die vermehrten Funde im Netz reagieren?

Das ist das zweite Problem. Im Moment müssen die Behörden selbst prüfen, ob es sich bei neuen Meldungen auch um neues Material handelt, also akut ein Kind in Gefahr ist. Das ist aufwendig und kostet Zeit, weil personelle und technische Ressourcen nicht auskömmlich sind. Zeit, die man nicht hat. Die EU will nun eine Zentrale gründen, die kinderpornografisches Material archiviert. Das würde den Abgleich europaweit um ein Vielfaches beschleunigen.

Behörden in NRW sagen, am meisten würde es ihnen weiterhelfen, wenn Internetdienstleister die Verkehrsdaten ihrer Nutzerinnen und Nutzer abspeichern müssten. Man spricht hier von Vorratsdatenspeicherung. Ist das vorgeschoben?

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Nein, sie haben völlig Recht. Selbst wenn die Polizei ermitteln kann, dass es sich um neue Fotos handelt und ihnen die IP-Adresse des Täters vorliegt, können sie die konkrete Person dahinter oft nicht ermitteln, weil IP-Adressen in der EU nicht gespeichert werden dürfen. Wenigstens einige Wochen müssten sie aber vorgehalten werden, da stimmen wir zu. Probleme habe ich damit, wenn Innenminister sehr viel umfangreichere Speicherungen fordern und im Hinterkopf haben, dass sie dann auch Drogendealer im Netz besser erwischen könnten.

Gesetz dem Fall, Ihre Forderungen würden erfüllt – sind Täter damit schneller gefasst?

Fragen des Datenschutzes sind längst nicht alles. Es gibt gut arbeitende Cyber-Einheiten, aber im Großen und Ganzen ist die Polizei im Moment nicht in der Lage, im Internet auf Streife zu gehen. Technik und Personal fehlen. Und ich warne davor zu glauben: Internet gut, alles gut. Wenn ein Täter ermittelt ist, geht die Polizeiarbeit ja weiter, wie der aktuelle Fall in Wermelskirchen zeigt. Die Ermittler haben dort über 200 Datenträger entdeckt, die nun alle gesichtet werden müssen.

Nötig sind auch Entlastungen. Die Hälfte der Täterinnen und Täter im Bereich Besitz und Weitergabe von Kinderpornografie ist jünger als 18 Jahre. Dabei geht es aber in der Regel nicht um Material pädophilen Ursprungs, sondern um Bilder, die vielleicht eine 13-Jährige an ihren 16-jährigen Freund schickt. Rein rechtlich ist das ein Fall von Kinderpornografie, in dem die Polizei ermitteln muss. Aus unserer Sicht muss es da eine Öffnungsklausel geben.

KinderpornografieWelche Rolle spielen Schulen, Kitas und Eltern im Kampf gegen Kindesmissbrauch?

Eine riesige. In NRW ist es gelungen, mehrere Missbrauchskomplexe aufzudecken – weil die Polizei verstärkt wurde, weil die Strukturen stimmen und die Zusammenarbeit der Behörden verbessert wurde. Aber: Die große Masse an Kindesmissbrauchsfällen passiert im sozialen Nahbereich – Verwandte, Nachbarn, Babysitter wie jetzt in Wermelskirchen. Und genau diese Fälle werden den Behörden oft nicht gemeldet. Ich habe so langsam die Sorge, dass alle nur aufs Internet schauen. Der Mann, der deinem Kind Gewalt antut, kann abends auch neben dir am Grill stehen.

Was muss folgen?

Bei der Prävention passiert bislang zu wenig. Wir brauchen verstetigte Angebote für Kinder in Grundschulen und Kitas. Kinder müssen darin bestärkt werden, Stopp zu sagen und sie müssen Gefahren kennen. Sie müssen aber auch wissen, dass sie zu ihren Eltern gehen können, selbst wenn es der eigene Onkel ist, der sie belästigt oder ihnen Gewalt antut. Für Eltern ist das wahnsinnig schwierig. Deshalb braucht es auch für sie Angebote, um sie zu sensibilisieren. Sie müssen wissen, was auch in Klassenchats abgehen kann und wie sie damit umgehen sollten. Die Bereitschaft ist da, das erlebe ich, wenn ich bei Elternabenden in Schulen spreche.