Düsseldorf. Lehrer- und Elternverbände in NRW warnen vor einem “riskanten Alleingang“ bei der Quarantäne. Mediziner äußern hingegen Verständnis
Viel Kritik von Lehrern und Eltern, aber auch Lob aus Teilen der Ärzteschaft erfährt die Landesregierung für ihren Sonderweg bei der Schul- und Kita-Quarantäne. Die Ankündigung, künftig nur noch infizierte Kinder und nicht die Sitznachbarn zu isolieren, irritiert viele Beobachter.
„Wir sind fassungslos“, sagte Ralf Radke, Vorsitzender der Landeselternschaft der integrierten Schulen. Die Landesregierung versuche „auf Teufel komm raus“ den Schutz der Kinder aufzuweichen. „Man gewinnt den Eindruck, NRW bekämpfe nicht die Pandemie, sondern die Maßnahmen gegen die Pandemie.“ Mit Infektionsschutz hätten solche Entscheidungen nichts mehr zu tun, sagte er dieser Redaktion.
Harald Willert, Chef der Schulleitungsvereinigung NRW, interpretierte die neuen Quarantäneregeln als „Eingeständnis, dass die Gesundheitsämter die Nachverfolgung nicht leisten können“. Das Land stecke in einem Zwiespalt: NRW wolle so viel regulären Unterricht wie möglich anbieten, dürfe aber nicht die Gesundheit der Kinder aufs Spiel setzen.
Gewerkschaft GEW: Regierung will "mit dem Kopf durch die Wand"
Ayla Çelik, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in NRW warf der Landesregierung in einer Mitteilung vor, sie wolle „mit dem Kopf durch die Wand, auch wenn bundesweit andere Regelungen verabredet wurden.“ Die neuen NRW-Regeln bringen laut GEW „weniger Sicherheit, sind vage und intransparent.“ Çelik nannte das Vorgehen von CDU und FDP befremdlich: „Erst richtete die Landesregierung einen Hilferuf nach Berlin, einheitliche Quarantäneregeln zu verabschieden. Jetzt, wo das Ergebnis nicht das gewünschte ist, weicht sie davon ab. So schafft man keine Akzeptanz.“
Kein Verständnis für den "Alleingang"
NRW-SPD-Chef Thomas Kutschaty kritisierte scharf den „Alleingang“ der Landesregierung bei der Quarantäne. „Was Herr Laumann und Frau Gebauer bei den Ländern nicht durchgesetzt bekommen haben, macht die Landesregierung jetzt wieder im Alleingang“, sagte er dieser Zeitung. Kutschaty weiter: „Wofür gibt es solche Länderrunden, wenn sich die Landesregierung dann doch nicht an die Beschlüsse hält? Und warum hat NRW dem Beschluss überhaupt zugestimmt? Kein Wort der Erklärung dafür. Stattdessen eine Pressemitteilung, in der Gesundheitsminister Laumann auch noch behauptet, die vereinbarten Beschlüsse umzusetzen. Das verstehe, wer will. Ich tue es jedenfalls nicht.“
Nun komme es darauf an, im Falle einer Corona-Infektion eines Kindes die anderen Kinder fortan jeden Tag einzeln zu testen. „Daran darf es jetzt kein Vorbei geben. Ich hoffe, die Landesregierung hat schon alles dafür vorbereitet“, so Kutschaty.
Mediziner: Zahl der Infektionen dürfte steigen
Es gibt aber nicht nur kritische Reaktionen. Der Landeseltenbeirat der Kitas begrüßt es, dass Kinder nun mehr in den Fokus gerückt und ihre Teilhabechancen erhöht würden. Lob kommt von Kinder- und Jugendärzten. Ihr Berufsverband hatte zuletzt für eine gezieltere Quarantäne für infizierte Kinder plädiert. Diese Forderung sei nicht leichtfertig gemacht worden, unterstreicht Axel Gerschlauer, Sprecher seines Verbandes in Nordrhein. „Wir fürchten und wir rechnen damit, dass die Anzahl der Corona-Infektionen unter Kindern und Jugendlichen steigen wird, wenn nun nur noch Infizierte in Quarantäne geschickt werden.“
Dennoch sei der Schritt richtig: „In der vierten Welle darf es nicht mehr heißen: Infektionsschutz um jeden Preis. Kinder und Jugendliche haben in den ersten drei Wellen einen zu hohen Preis gezahlt.“ Der Mediziner berichtet, er habe noch nie so viele Fälle von Depressionen, Essstörungen und Selbstverletzungen gesehen wie jetzt, die Belastung vieler Kinder in den Lockdown-Zeiten sei hoch gewesen. „Man muss Infektionsschutz und Kinderreche abwägen. Das ist ein Balanceakt.“ Die weitere Entwicklung sei engmaschig zu beobachten. „Wir müssen genau im Blick haben, zu wie vielen schweren Krankheitsverläufen es kommt.“
Versäumnisse beim Schutz der Kinder?
Die Regelung in NRW, auf einen Corona-Fall mit Pflichttests in Kitas und mehr Tests in Schulen zu reagieren, hält Gerschlauer indes für nicht ausreichend. Nötig sei eine vollständige Umsetzung der sogenannten S3-Leitline für Schule in Pandemiezeiten, die eine interdisziplinäre Gruppe aus fast 40 Fachgesellschaften und Verbänden erarbeitet hat. Darin seien so einfache Maßnahmen wie ein gestaffelter Unterrichtsbeginn oder der Einsatz von mehr Schulbussen vorgesehen. „NRW hat die zweiten Sommerferien verschlafen, um einen konsequenten Schutz der Kinder umzusetzen“, ärgert sich Gerschlauer.