Essen. Die Corona-Krise verlangt uns nicht nur dauernd Entscheidungen ab, sondern zwingen auch, Widersprüche auszuhalten. Sogar die katholische Kirche.
Auch nach Wochen ist unsere Unsicherheit in der Corona-Krise kaum weniger geworden. Manche Fragen sind geklärt, aber selbst zuvor noch so alltägliche, selbstverständliche Dinge wie das Einkaufen setzen stets aufs Neue Entscheidungen mit moralischer Dimension voraus: Muss ich wirklich zum Supermarkt und andere womöglich gefährden? Was kaufe ich und wenn ja: Wie viel davon? Wer seltener geht, muss mehr kaufen – aber steckt das dann nicht wieder andere mit dem Hamster-Virus an?
Und Dinge, mit denen man sich früher unbedacht den Hintern abgewischt hat, sind plötzlich eine Frage von Solidarität und Rücksichtnahme, erfordern Entscheidungen für das Teilen und Sich-Beherrschen.
Wir merken, was wir eigentlich schon immer wussten oder hätten wissen können: Die Dinge sind nicht schwarz oder weiß, sie sind nicht gut oder böse, sondern immer etwas von allem. Was gut und böse ist, weiß vor allem die Morallehre immer ganz genau – die Ethik ist der Versuch, sich mit der großen, viel weniger überschaubaren Grauzone dazwischen auseinanderzusetzen, anhand von Werten, deren herausragende Eigenschaft darin besteht, dass es sie in einer pluralen Gesellschaft nicht in der Einzahl gibt.
Zeichen des Notstands: die Triage
Eine fundamental verunsichernde Erfahrung der Corona-Krise aber besteht darin, dass wir am Ende sogar die Grenzen unserer Werte-Orientierung aufgezeigt bekommen. Der Fall des 72-jährigen Priesters Giuseppe Berardelli im italienischen Bergamo, der zugunsten eines deutlich jüngeren Patienten auf ein Beatmungsgerät verzichtete und deshalb an den Folgen des Coronavirus gestorben ist, könnte uns auch deshalb so berühren, weil es ein Fall von doppelter Nächstenliebe ist: Schließlich hat es der Pater auch einem Arzt erspart, entscheiden zu müssen, wer das Gerät bekommt.
Denn diese Entscheidungen über Leben und Tod, die Ärztinnen und Ärzte jetzt auch in den USA, in Spanien und in Frankreich und, wenn es schlecht läuft, vielleicht auch hierzulande zu treffen haben, sind un- und übermenschlich zugleich. Allerdings gibt es für die Mediziner ein Hilfsmittel, dessen Namen wir in der Krise vielleicht ebenso ungern dazugelernt haben wie den der „Herdenimmunität“: die Triage. Nicht im Sprachgebrauch der Kaffeeröster, die damit den Ausschuss bezeichnen, sondern abgeleitet aus dem französischen Wort für „sortieren“ eine Entscheidungshilfe, die auf den Schlachtfeldern der Neuzeit entstand – und heute in den allermeisten Klinik-Ambulanzen schon Routine ist. Wer jemals in der Notaufnahme hockte und sich gefragt haben, warum andere, die gerade erst hereinkamen, eher dran sind als andere, die schon Stunden warten, dann war das eine Folge der Triage, des Triagierens.
Covid-19 kann zu Situationen führen wie eine griechische Tragödie
Je verheerender die Folgen immer größerer Kanonen und Kriegswaffen wurden, desto häufiger waren die Chirurgen in den Lazaretten überfordert. In der französischen Revolutionsarmee machte man erstmals gute Erfahrungen damit, nicht jeden Verletzten sofort zu behandeln, sondern die mit größeren Überlebens-Chancen zuerst. Die Methoden, solche medizinischen Entscheidungen für jene zu treffen, die von einer Behandlung am meisten profitieren, wurden immer mehr verfeinert – was nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass es auch dann immer nur Notwehr-Maßnahmen in krassen Notlagen, in Momenten der Überforderung einzelner Menschen wie des Systems waren.
Dass heute in so gut wie jeder Klinik-Ambulanz triagiert wird, mag ein Fortschritt der Medizin sein, zeugt aber genauso davon, dass auch die Verknappung der Ressourcen in der Notfallmedizin vorangeschritten ist – was wiederum eine zwangsläufige Folge der Umwandlung von Krankenhäusern in gewinnmaximierende Betriebe ist. Gleichwohl kann eine Infektion mit dem Ansteckungsgrad von Covid-19 auch gut ausgestattete Gesundheitssysteme überfordern und Entscheidungen erzwingen, die nur genauso falsch wie richtig sein können, wie in der griechischen Tragödie, in der es keinen Ausweg ohne Schuld gibt und nur die Wahl zwischen zwei falschen Entscheidungen bleibt.
„Entzieht sich einer einfachen moralische Bewertung“
Das bringt derzeit selbst die sonst so wertebewusste katholische Kirche an die Grenzen ihres Urteilsvermögens. So hat der Ethikrat des Bistums Essen in diesen Tagen nur scheinbar kategorisch festgestellt: „Jede gut abgewogene Entscheidung in einer Triage-Situation verdient höchsten Respekt und entzieht sich einer einfachen moralischen Bewertung.“
Man kann das als mutlos empfinden, weil es schließlich eine der fundamentalen Errungenschaften des Christentums war, die zum Kern, zum Ausgangspunkt des Grundgesetzes wurde: Jeder Mensch ist gleich viel wert, darin besteht die Würde des Einzelnen wie die aller. Kaum etwas hat in letzter Zeit so drastisch klargemacht, was das bedeutet, wie Ferdinand von Schirachs Theaterstück „Terror“, bei dem die Zuschauer am Ende einen Soldaten schuldig oder freisprechen sollen, der eine entführte Passagiermaschine abschießt, damit sie nicht als Waffe auf ein Wohngebiet niedergeht: Er macht sich schuldig, wenn er die unschuldigen Menschen im Flugzeug opfert. Und doch wollten die meisten Zuschauer ihn freisprechen.
Leben mit Verantwortung und Schuld
Spätestens an dieser Stelle aber merken wir schmerzlich, wie sehr wir verlernt haben, Widersprüche und Mehrdeutigkeit auszuhalten. In der digitalen Welt, in der es nur Null oder Eins gibt, in der kapitalorientieren Gesellschaft, in der jedes Ding einen Wert haben muss, der genau zu fixieren ist, damit es zum Handelsgut oder zum Produktionsmittel werden kann, ist Vielfalt, ist Uneindeutigkeit immer schlechter zu ertragen. Auch das begünstigt, wie der in Münster lehrende Arabist Thomas Bauer unlängst in seinem Essay „Die Vereindeutigung der Welt“ festgestellt hat, die Vereinfachung, das Schwarz-Weiß-Denken, den Fundamentalismus, die Radikalisierung: „Genau dies“ aber, hält Bauer dagegen, „ist unsere Welt: uneindeutig.
Die Corona-Krise zeigt uns, dass nicht nur das Menschsein, sondern auch die Menschlichkeit Grenzen hat. Wir werden gut daran tun, diese Grenzen zu akzeptieren. Und mit Schuld, mit Verantwortung zu leben. Egal, wie wir uns entscheiden.