Düsseldorf. .
Der frühere NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) hat seine neue Rolle noch nicht gefunden. Ohne seinen ehemaligen Machtapparat wirkt der einfache Abgeordnete zuweilen etwas verloren, auch wenn er seine neue Freiheit preist.
Er nimmt noch immer die Treppe. Es ist sein morgendliches Ritual, sich der eigenen Fitness zu versichern. Bis zum 14. Juli stapfte Jürgen Rüttgers oft vor Sonnenaufgang hinauf in den zehnten Stock des gläsernen Düsseldorfer Stadttores. Hier residiert die NRW-Staatskanzlei. Nun nutzt er wenige 100 Meter entfernt das enge Treppenhaus des Landtags. Sein neues Büro befindet sich im sechsten Geschoss. In politischen Sphären gerechnet, beträgt der Unterschied weit mehr als vier Etagen. Aus dem Ministerpräsidenten Rüttgers ist der einfache Abgeordnete Rüttgers geworden. Was macht das aus einem Mächtigen?
Wenn man dem CDU-Politiker auf dem Landtagsflur oder in der Kantine begegnet, versichert er eine Spur zu aufgekratzt, dass es ihm gut gehe. „Es ist doch klar, dass er jetzt erst einmal seine Rolle finden muss“, sagen Freunde. Rüttgers sitzt im Kulturausschuss. Ein Themenfeld, das ihn interessiert. Man kann ihn dort beobachten, wie er Notizzettel bekritzelt. Bis vor wenigen Monaten hat er mit solchen Merkblättchen, die er zuhauf aus Wochenenden und Urlauben mit in die Staatskanzlei brachte, ganze Regierungsstäbe auf Trab gebracht. Jetzt lauscht er der für Kultur zuständigen SPD-Ministerin Ute Schäfer, die er im Wahlkampf zum „letzten Aufgebot der einst so stolzen Sozialdemokratie“ gezählt hatte.
Still in der ersten Reihe
Rüttgers macht sich rar. Er gibt kaum Interviews, bringt sich allenfalls in kleinen Zirkeln ein. Die Neuordnung der CDU, seiner CDU, scheint an ihm vorbei zu laufen. Im Landtagsplenum kauert er meist still in der ersten Reihe neben Fraktionschef Karl-Josef Laumann. Oder er zieht sich mit seinem früheren Regierungs-Vize, FDP-Chef Andreas Pinkwart, in einen entlegenen Parlamentswinkel zurück. Er wolle nicht „vom Spielfeldrand ins politische Tagesgeschäft hin-einbolzen“, sagt Rüttgers.
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Ohne Referenten, Sicherheitsbedienstete und Wichtigtuer, die ihn einst umschwärmten wie Putzerfischchen, wirkt er zuweilen etwas verloren. Das mag täuschen, denn kaum einer kennt die Mechanismen des Machtbetriebs so genau wie Rüttgers. Bei seinem politischen Ziehvater Helmut Kohl sah er unmittelbar, wie schnell sich vermeintliche Freunde abwandten, als der Wähler den Zweckbeziehungen die Grundlage entzogen hatte. „Ihn kann in dieser Hinsicht nichts überraschen“, versichert Rüttgers’ Umfeld. „Diejenigen, die mich früher gekannt haben und mich heute auf einmal nicht mehr kennen, können mir den Buckel run-ter rutschen“, hat er jüngst der Bild-Zeitung trotzig gesagt.
Am 6. November wird Rüttgers beim Parteitag der NRW-CDU in Bonn den Landesvorsitz an Ex-Integrationsminister Armin Laschet oder Bundesumweltminister Norbert Röttgen weiterreichen. Kanzlerin Angela Merkel wird kommen. „Es wird ein würdiger Abschied, den er auch verdient hat“, sagt Generalsekretär Andreas Krautscheid. Nach gut elf Jahren an der Spitze des CDU-Landesverbandes und drei Jahrzehnten in höchsten politischen Äm-tern schließt sich für Rüttgers in Bonn ein Kreis. Obwohl er erst 59 ist und noch beim Neujahrsempfang 2010 bis hinauf zum Bundespräsidialamt alles möglich schien. Schwarz-Gelb in Berlin, Griechenland-Milliarden, der Intrigantenstadl in der Düsseldorfer Parteizentrale, falsche Wahlkampfthemen – plötzlich wollen viele den Absturz vorhergesehen haben.
Die neue Freiheit
Rüttgers, der früher darum kämpfen musste, seinen Terminkalender nur im 45-Minuten-Rhythmus vollgestopft zu bekommen, kann sich auf einmal Themen und Gesprächspartner aussuchen. Er kümmert sich um eine Stiftung, die allen Schülern einen Besuch der Auschwitz-Gedenkstätte ermöglichen will, er liest und schreibt neben der Abgeordneten-Tätigkeit. Ob er die neue Freiheit genießt? Kaum jemand in der NRW-CDU kann sich vorstellen, dass das auf Dauer einen Machtmenschen ausfüllt, dessen Biorhythmus bis vor kurzem von Schlafmangel, Stress und Adrenalin geprägt war. Wenn Rüttgers über die neue „Souveränität über die eigene Lebenszeit“ schwärmt, klingt es deshalb noch immer ein wenig so, als preise ein Formel 1-Pilot die Vorzüge des Busfahrens.