Washington. .

Bald jährt sich der Mauerfall zum 20. Mal. Joachim Rogge berichtete zur Wendezeit aus Ostdeutschland. Heute fragt er sich, was aus den Menschen wurde, die er damals traf.

Da wollte einer nicht vereinigt werden. Laut dröhnte am Abend des 2. Oktober die DDR-Hymne über die Leipziger Straße. Den Kassettenrecorder seines Trabis hatte der junge Mann bis zum Anschlag aufgedreht - ein lauter Protest war das gegen die Feierstunde vor dem nahen Reichstag, die Deutschlands neue Einheit um Mitternacht besiegelte.

Was aus dem Mann im Verlauf der nächsten 20 Jahre geworden ist, würde ich heute gerne wissen. Ob er seinen Frieden gemacht hat mit der vereinigten Republik oder weiterhin dem Untergang seiner kleinen DDR nachtrauert, ob er beruflich neu Fuß fassen konnte oder sich von Umschulung zu Umschulung schleppte, in den Westen oder gar ins Ausland umsiedelte - es wäre interessant zu erfahren, was der Mann heute selbst über seine kleine, ganz private Protestaktion von damals denkt.

Nach seinem Namen habe ich ihn damals nicht gefragt. Der musikalische Protest erschien mir an diesem historischen Abend, an dem die DDR beerdigt werden sollte, tatsächlich ein Stück weit zu kindisch. Auch viele meiner Freunde im Osten Berlins, in Stralsund und Bautzen hatten Bauchschmerzen mit Blick auf das Abenteuer deutsche Einheit. Aber deshalb wären sie nie auf die Idee gekommen, Bechers Hymne noch ein allerletztes Mal als Grabgesang auf die ungeliebte Republik zu intonieren.

20 Jahre ist es her

20 Jahre ist es her, dass die DDR von einem Moment zum anderen Geschichte wurde. Elf Monate zuvor erst war die Mauer in Berlin gefallen. Das war der Moment, der zu Herzen ging und sich auf ewig im Gedächtnis einbrannte. Der Glanz in den Augen der Menschen, die in der Bernauer Straße zwischen Berlins Wedding und Mitte darauf warteten, dass Hebekräne spät in der Nacht die erste Bresche in den Betonwall schlugen, der Jubel am Potsdamer Platz, als sich die ersten Trabis fauchend und knatternd über eilig verlegten Asphalt ihren Weg gen Westen bahnten - das waren Stunden voller Gänsehaut-Emotionen.

Der 3. Oktober 1990 hingegen, der Festakt vor dem Reichstag mit den Großkopferten aus West und Ost auf der mächtigen Freitreppe, hatte dem gegenüber den Pep eines notariell beglaubigten Verwaltungsaktes. Die Euphorie war da ohnehin schon wesentlich gedämpfter.

Westluft schnuppern

Überstürzt hatte ich meinen Schreibtisch in Bonn verlassen, als mich am Abend die Nachricht von der Maueröffnung ereilte. Gut 20 Stunden dauerte die Fahrt bis nach Berlin, damals West. Die Transitstrecke zwischen Magdeburger Börde und dem Grenzkontrollpunkt Drewitz war ein einziger Parkplatz. Der Kudamm war das Ziel aller Sehnsüchte. Nur mal gucken, Westluft schnuppern - und dann wieder nach Hause. „Republikflüchtig“ musste niemand mehr werden, um „den Westen“ mit eigenen Augen zu sehen. Von Einheit redete niemand bei den Verbrüderungen auf der Autobahn.

Das sollte sich schnell ändern. Der Zug nahm Fahrt auf. „Wir sind ein Volk“, hieß es bei den Leipziger Montagsdemos nach dem Berliner Mauerfall schon recht früh. Als abstoßend empfanden meine Frau und ich, wie schamlos westdeutsche Neonazi-Gruppen ihre Propaganda unters Volk warfen, das sich politisch noch nicht auskannte und arglos nach allem griff. Für eine bessere DDR, für die schnelle Einheit - die Momente des reinen Glückstaumels nach dem Fall der Mauer verpufften schnell.

Spannungen wuchsen

Statt dessen wuchsen Spannungen. Im winterkalten Dezember-Dresden, als Kanzler Kohl zu seiner ersten Kundgebung in die DDR reiste, erlebten wir schon kräftige Rangeleien in den hinteren Rängen. „Ihr verkooft uns für ‘ne Butterbemme“, hauten die einen den anderen um die Ohren, während Kohl vor der Ruine der Frauenkirche in einer geschickt ausbalancierten Rede Erwartungen der Ostdeutschen weckte, ohne die Alliierten durch allzu forsches Tempo zu verprellen. Doch spätestens danach war klar, wohin die Reise gehen sollte.

Trotzdem: Auf drei bis fünf Jahre Nebeneinander hatte ich selbst getippt. In Bonn, damals noch Bundeshauptstadt, kalkukierte man ähnlich. Unterschätzt hatte alle, auch wir West-Journalisten vor Ort, dass die übergroße Mehrheit in der DDR keine Geduld mehr hatte und sich lieber heute als morgen „anschließen“ wollte. Der unaufhörliche Exodus gen Westen sprach eine überdeutliche Sprache.

„Wir fallen doch nicht unter die Räuber“

Als die Volkskammer auf ihrer heute legendären 30. Tagung im August das Ende der DDR beschloss, saß ich oben auf der Pressetribüne, erlebte, wie ein Parlament sich in stundenlanger, erbitterter Debatte über die Frage des Beitrittsdatums beinahe selbst zerlegte. „Wir fallen doch nicht unter die Räuber“ - der Satz Wolfgang Thierses, der befrieden sollte, kurz vor der Abstimmung um 3 Uhr früh hallt mir heute noch im Ohr. Thierse konnte nichts dafür, dass so mancher, der sich später von wortgewandten Versicherungsvertretern aus dem Westen übel ausgetrickst sah, tatsächlich genau diesen Eindruck gewann. Müde gingen wir alle nach dieser historischen Nacht nach Hause, für erneut eine zu kurze Mütze Schlaf.

Spannende, aufreibende Zeiten auch ganz praktisch: Wie übermittelt man Texte in einem Land, in dem öffentliche Telefone Mangelware sind? Wo schläft man nachts, wenn Reportagen in Ecken führen, die auf Tourismus nicht eingerichtet sind? Wo bekommt man, etwa in den Weiten Vorpommerns, nach 20 Uhr noch einen Happen zu essen? Verhungert bin ich nie. Und auch die Texte fanden pünktlich ihren Empfänger. Meistens halfen freundliche Menschen aus, boten Quartier an in früheren Kinderzimmern oder Dachstuben, ließen telefonieren und wärmten Suppe auf. Dafür heute noch einmal, 20 Jahre später, ganz herzlichen Dank.

ZUM AUTOR

Zehn spannende Jahre, vom Mauerfall über die Wendezeit bis zum Regierungsumzug, berichtete Joachim Rogge aus Ostdeutschland. Unbekanntes Terrain war der Osten für den gebürtigen „Wessi“ aus dem Ruhrgebiet nicht. Rogge, Jahrgang 1958, hatte in West-Berlin studiert und nebenbei die DDR von Rostock bis Leipzig, von Gera bis Anklam in regelmäßigen 24-Stunden-Trips erkundet. Das erleichterte die Orientierung in den dramatischen Wendemonaten. 2001 war es dann genug. Die nächsten acht Jahre berichtete Rogge aus Frankreich. Seit gut einem Jahr lebt er mit Frau und Kindern in Washington.