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Nur auf den ersten Blick ist Alexander Osangs „Königstorkinder“ ein Nachwende-Roman: Da wird das Bötzowviertel im Prenzlauer Berg zum Schauplatz des beharrlichen Nichtzusammenwachsens – zweier Staaten und zweier Menschen.

Jetzt, „wo es alle möglichen zwanzigjährigen Jubiläen gibt”, ist der bärtige Bürgerrechtler wieder ein gefragter Gesprächspartner. „Wer soll’s denn sonst erzählen, wenn nicht wir? Wir, die wir dabei waren. Also mach ich hier und da mit und erzähl aus meinem eigenen Leben wie ein verdammter Museumsführer.” Dann nimmt der Laienschauspieler den Bart des Bürgerrechtlers ab.

Eine typische Szene. Denn nur auf den ersten Blick ist Alexander Osangs Roman „Königstorkinder” ein klassischer Nachwende-Roman. Ein Roman, in dem das Bötzowviertel im Prenzlauer Berg zum Schauplatz des beharrlichen Nichtzusammenwachsens wird: zweier Staaten und zweier Menschen.

Andreas Hermann, geboren in Neustrelitz, arbeitsloser Journalist, Wendeverlierer, nimmt Teil an einem der vielen Projekte der „Projektrepublik” Deutschland: Die Beschäftigungsagentur „contact” lässt Bürgersteige vermessen und den Weinanbau in Berlin dokumentieren und Laien in Altenheimen den Mauerfall schauspielern. Wenn Andreas Hermann nicht den bärtigen Bürgerrechtler gibt, räumt er – im Teilprojekt „stattumzug” – die Wohnungen Verstorbener aus. In einer findet er das Tagebuch eines verstorbenen Professors, dessen Einsamkeit ihn tief berührt: „Er ahnte, dass er auf so ein Leben zusteuerte.”

Schicke Siedlung mit weißen Townhäusern

Ulrike Beerenstein lebt in den „Prenzlauer Gärten”, einer schicken Siedlung mit weißen Townhäusern. Sie arbeitet in einem der neuen Ladenbüros, macht Werbung. Sie ist zugezogen aus München, hat einen Ehemann und eine kleine Tochter.

Beide suchen das Authentische und finden: sich. „Ulrike und Andreas standen auf dem Gipfel des Prenzlauer Berges und hielten sich an den Händen. ... Sie standen auf den Trümmern der untergangenen Welt und schauten auf ihr Reich. Sie hatten ihre Leben abgestreift, sie ihres und er seines. ... Königstorkinder.”

Was für ein wunderschönes Märchen! Es wird erzählt von Andreas Hermann selbst, sein Zuhörer ist ein Arzt in der Charité: Dort bewirbt sich Andreas Hermann um die Teilnahme am „Marsflugprojekt”, einer Studie zum Schlaf.

Hüben wie drüben in Drogen vereint

Alexander Osang hat bereits im Roman „Die Nachrichten” ein ostdeutsches Opfer der eigenen Vergangenheit geschildert, diesmal ist nicht die Stasi, sondern mangelnde (Selbst-)Kontrolle das Problem. „Ich möchte der Welt entfliehen”, sagt Andreas Hermann dem Mediziner. Stets ringt er um „Spielraum“. Überschäumende Phasen wechseln sich ab mit Abstürzen, dagegen nimmt er Pillen. Dieselben, die er auch in Ulrike Beerensteins Schränken findet, eine schöne Ironie – hüben wie drüben sind sie in ihren Drogen vereint.

Andreas Hermann ist unser üblicher Verdächtiger: Einer wie er ist schon durch Thomas Brussigs Wenderoman („Wie es leuchtet”) getaumelt, er hat sich bereits in Clemens Meyers gewaltiger Prosa („Als wir träumten”) in private Parallelwelten zurückgezogen. Osangs Roman, diese traumschöne Liebesgeschichte, dies feine Porträt eines Stadtviertels, schlösse sich kunstvoll daran an. Wenn er nicht im letzten Moment, filmreif!, den Lesern eine erzählerische Ohrfeige verpassen würde.

Und wir ahnen: Dies ist die Wende im Nachwenderoman. Dieser Andreas Hermann ist eine ganz und gar neue Figur. Er fordert die Wahrheit heraus. Er erfindet unsere Träume. Wir sind seine Opfer. Es sollte uns eine Ehre sein.