Essen.
Das Urteil der Europäischen Gerichtshofes zur Sicherungsverwahrung von Straftätern verunsichert die deutschen Richter. Sie fällen unterschiedliche Urteile für gleichartige Fälle.
Strafrichter und Staatsanwälte im Land erzählen in diesen Tagen, in denen es um Freilassung oder Nichtfreilassung möglicherweise gefährlicher Sicherungsverwahrter geht, viele Geschichten aus ihren Akten. Manche gehen so aus wie die von dem Mann mit dem Fleischermesser. Er kommt nicht frei. Andere berichten von Menschen, die sich nach 40 Jahren hinter Gefängnismauern an der frischen Luft wiederfinden. Was dabei entscheidet? Nicht die Gefährlichkeit. Es ist die geografische Lage der Haftanstalt. Richter im rheinischen Köln urteilen anders als ihre Kollegen im westfälischen Hamm.
Äußerste Brutalität
Der Messer-Täter. Er ist heute 66 Jahre alt. Er hat in seinem Leben mindestens 23 Straftaten begangen. Er hat versucht, seine Frau zu erstechen und Jahre später, nach Verbüßung von sieben Jahren Haft, wurden eine neue Bekannte das nächste Opfer und deren Schwägerin, als sie zur Hilfe eilte. Wieder benutzte er das Messer. Wieder ging er mit äußerster Brutalität vor und trennte der Schwägerin die Beinvene und Nerven und Muskeln durch.
Zuhälterei, Körperverletzungen, Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger waren die weniger schweren Delikte im Katalog. Der Gutachter, bescheinigte ihm „keine Kontrolle über Wut, Hass und Enttäuschungen“. Er sei: leicht verletzlich, selbstbezogen. Er habe kein Mitgefühl. Das Oberlandesgericht in Köln hat vor wenigen Wochen vor der Frage gestanden, ob es diesen Mann im Rentenalter aus der Sicherungsverwahrung in Aachen entlassen darf. Es entschied: mit Nein.
Gestörtes Verhältnis zum weiblichen Geschlecht
Der Mann, der andere würgte. Nicht viel jünger ist der 63-jährige, der in der JVA Werl sicherungsverwahrt ist und dem die Gutachter ein gestörtes Verhältnis zum weiblichen Geschlecht attestierten. Seit „frühester Jugend“, stellten die Gerichte fest, hat er Mädchen und Frauen gewürgt, um sie gefügig zu machen. Das Gefügigmachen gelang zunächst nicht. Erst später kam es zu vollendeten Vergewaltigungen, dann aber mehrfach. Das Landgericht Duisburg verurteilte ihn 1987 zu neun Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung.
Auch über diesen Täter war neu zu richten. Am 6. Juli 2010 beschloss der 4. Senat in Hamm: „Der Untergebrachte ist aus der Sicherungsverwahrung zu entlassen“.
Richterschaft ist gespalten
Es ist ein Straßburger Grundsatzurteil, das diese Beschlüsse erzwingt - und die Richterschaft spaltet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte festgestellt, eine nachträgliche unbefristete Verlängerung der Sicherungsverwahrung, die bis 1998 nur auf zehn Jahre möglich war, verstoße gegen die Menschenrechte. Die Justizministerin in Berlin sieht keinen Ausweg, das Urteil zu umgehen: „Die deutschen Gerichte müssen es beachten und umsetzen“, sagt sie. Es habe „unmittelbare Wirkung im Rang eines Bundesgesetzes“.
In der Bundesrepublik sind mehrere hundert Täter betroffen, in NRW bis 2019 alleine 65. Noch 21 könnten bis Dezember in diesem Bundesland frei kommen. Fünf Oberlandesgerichte – neben Köln Koblenz, Nürnberg, Stuttgart und Celle – verweigern sich der Aufforderung von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, dem Straßburger Urteil nachzukommen. Nur Frankfurt und Hamm folgen ihr.
Die Zeit läuft weg
Die juristische Auseinandersetzung reicht tief (Ist Deutschland an das Urteil völkerrechtlich gebunden?), sie ist politisch („Die Politik muss schnell Verwahreinrichtungen schaffen“) und menschlich: Kölner Richter räumen ein, es erscheine ihnen unverantwortlich, Leute zu entlassen, die möglicherweise wieder morden oder vergewaltigen. Immer wieder stellt sich der Justiz diese Frage: Was passiert, wenn sie draußen sind?
Die verwirrte Richterschaft hofft, dass der Bundesgerichtshof Klarheit schafft, dass er sie aus dem Netz der vielen sich widersprechenden Rechtsgüter befreit, in die sie das Straßburger Urteil trieb. Aber noch redet auch das Verfassungsgericht mit. Und immer öfter fehlt die kostbare Zeit.
Erhard Rex, Generalstaatsanwalt in Schleswig-Holstein, hatte am Dienstag keine Zeit mehr. Er stoppte in letzter Sekunde die Entlassung eines 49-jährigen, den „schmale und blonde Opfer“ lockten, die er dann missbrauchte. Rex hofft, dass sein Oberlandesgericht ähnlich entscheidet wie Köln - und die Ministerin widerlegt.