München. .

Offenbar müssen in Deutschland mehr Sicherungsverwahrte als bislang bekannt aus der Haft entlassen werden. Der frühere Bundesanwalt Nehm sieht darin eine enorme Belastung für die Gesellschaft.

Die Zahl der Sicherungsverwahrten, die noch in diesem Jahr in Freiheit kommen könnten, ist nach Recherchen des Nachrichtenmagazins „Focus“ deutlich höher als bislang bekannt. Das Bundesjustizministerium gehe von etwa 80 so genannten „Altfällen“ aus, die nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entlassen werden müssen. Eine „Focus“-Umfrage unter allen Bundesländern ergab jedoch, dass allein in diesem Jahr etwa hundert Inhaftierte von dem Richterspruch profitieren könnten. Insgesamt seien es knapp 300 Täter.

Der frühere Generalbundesanwalt Kay Nehm sagte dem Magazin, die drohende Entlassung so vieler sicherungsverwahrter Sexualverbrecher sei „für die Gesellschaft nicht zu verkraften“. Der niedersächsische Justizminister Bernd Busemann (CDU) kündigte an, er werde sich „mit Händen und Füßen“ dagegen wehren, dass in seinem Bundesland auch nur „ein einziger dieser als gefährlich eingestuften Sexualstraftäter“ entlassen werde. Sein sächsischer Kollege Jürgen Martens (FDP) setze dagegen auf die Einsicht der Täter. Er hoffe, dass bis zu einem Drittel der Verwahrten sich womöglich „freiwillig“ in den Maßregelvollzug einweisen lässt.

„Bewährtes System wird ohne Not zerstört“

Die namhafte Opferanwältin Marion Zech hält es für skandalös, dass „der Staat gefährliche Straftäter sehenden Auges auf die Gesellschaft loslässt.“ Es sei „geradezu perfide“, dass die Täter in manchen Fällen so schnell entlassen würden, dass sich weder sie noch die Opfer auf diese Situation einstellen könnten, sagte sie „Focus“. Zech vertrat unter anderem die Eltern der 1996 ermordeten siebenjährigen Natalie, deren Tod zur Verschärfung der Sicherungsverwahrung führte.

Der renommierte Kriminalpsychologe Thomas Müller beklagte, derzeit werde in der Bundesrepublik „ohne Not ein System zerstört, dass die Bevölkerung in den vergangenen Jahren vor als gefährlich identifizierten Straftätern geschützt hat“. Juristen und Politiker nähmen sich heraus, für die Gesamtgesellschaft Risiken in Kauf zu nehmen, die sie nicht tragen können. (ddp)