Essen. .
Die Angst vor sicherungsverwahrten Straftätern ist unbegründet. Laut Psychater und Gutachter Professor Norbert Leygraf wird nur ein Bruchteil der entlassenen Schwerverbrecher wieder kriminell. Fußfesseln können zusätzlich Straftaten verhindern.
In Heinsberg wird der aus der Haft entlassene Sexualstraftäter Karl D. seit mehr als einem Jahr rund um die Uhr von Polizisten bewacht. So groß sind die Ängste der Anwohner. Nun steht in Nordrhein-Westfalen die Entlassung von über 20 Sicherungsverwahrten an. Hayke Lanwert sprach mit dem renommierten forensischen Psychiater Prof. Norbert Leygraf aus Essen über die Gefahr, die von solchen Tätern ausgeht und über die Sorgen der Menschen im Land.
Herr Leygraf, in den nächsten Monaten könnten etwa 25 Sicherungsverwahrte aus nordrhein-westfälischen Gefängnissen freikommen, weil auf sie das Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zutrifft, sie also bereits über die zulässige Höchstdauer eingesperrt leben. Viele Menschen im Land sind in Sorge, manche sogar verängstigt. Wie berechtigt sind diese Ängste?
Leygraf: Die Ängste kann man natürlich verstehen. Da kommen Leute raus, von denen zwei Gutachter sagen, sie seien recht gefährlich. Auf der anderen Seite ist es aber von der Prognose her ausgesprochen schwierig, in diesen Fällen überhaupt etwas zu sagen. Die Taten liegen in der Regel 15 oder 20 Jahre zurück, diese Männer waren in diesen Jahren in Haft, und sind mittlerweile in einem Alter, in dem vieles nachlässt, auch die Gefährlichkeit. Und es gibt eigentlich keine Daten darüber, wie gefährlich solche Menschen tatsächlich noch sind. Es besteht also eine außerordentlich hohe Gefahr, deren Gefährlichkeit zu überschätzen.
Ist das nicht ohnehin so, wenn man bedenkt, dass allein in NRW pro Jahr mehrere hundert Sexualtäter nach Verbüßung ihrer Haft das Gefängnis verlassen?
Leygraf:Auch hat kaum jemand erfahren, dass es im Zusammenhang mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung schon 100 Fälle gibt von Tätern, bei denen die Landgerichte eine nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet hatten, der Bundesgerichtshof das aber aus Rechtsgründen aufgehoben hat. Die laufen ja auch schon frei rum.
Bochumer Kriminologen haben insgesamt 89 solcher Fälle über längere Zeit beobachtet und festgestellt, dass 23 von ihnen später wieder verurteilt wurden, die meisten allerdings wegen Drogen- und Diebstahlsdelikten, nur drei waren gewalttätig geworden. Halten Sie das für repräsentativ?
Leygraf:Es spricht schon einiges dafür, dass das repräsentativ ist. Aber diese Menschen sind natürlich nicht einfach so entlassen worden. Sie waren als gefährlich erkannt und deshalb hat man im Rahmen der sogenannten Führungsaufsicht mehr auf sie geachtet. Auch in internationalen Untersuchungen hat sich bestätigt, dass zehn bis zwanzig Prozent der Täter, die als hochgefährlich eingeschätzt werden, tatsächlich wieder eine schwere Straftat begehen. Ein viel geringerer Anteil also, als gemeinhin angenommen wird.
Was machen andere Länder mit solchen Straftätern?
Leygraf:Die sperren sie auch ein, genau wie wir, nur auf andere Art, die Engländer etwa haben sehr rigorose Rückfallverschärfungskriterien. Sie verhängen dann ausgesprochen lange Haftstrafen. In den USA nennt sich das nicht Sicherungsverwahrung, sondern Bewährungs-Vorbehalt. Nach der Haft kommt man nicht einfach raus, da wird eben auch geschaut wie die Prognose ist. Der Mörder von John Lennon hat, glaube ich, 20 Jahre Freiheitsstrafe bekommen und sitzt seit 30 Jahren.
Aus Sicht des Praktikers: Wie sollte Ihrer Meinung nach mit gefährlichen Sexualtätern nach der Haft umgegangen werden?
Leygraf:In Deutschland gibt es ja schon eine andere Art des Umgangs nach der Haft im Rahmen der Führungsaufsicht. Das Landeskriminalamt hat mit „Kurs” ein Betreuungssystem entwickelt, und die im Moment sehr diskutierte Fußfessel ist ein zusätzliches Instrument. Die meisten dieser Täter, die jetzt aus der Sicherungsverwahrung herauskommen, sind ja doch so gesteuert in ihrem Verhalten, dass sie nicht einfach blindlings irgendwelche Frauen überfallen oder irgendwelche Kinder. Denn dann hätten sie in den psychiatrischen Maßregelvollzug gemusst . . .
Als kranke Straftäter eben . . .
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Leygraf:Ja, genau. Sie sind eben nicht krank. Und durch das Wissen, wegen der Fußfessel bin ich zu orten und werde nach einer Tat auch bestraft, kann man einen relativ hohen Teil dieser Menschen daran hindern, neue Straftaten zu begehen.
Halten Sie es für sinnvoll, die Wohnorte der Freigelassenen bekannt zu geben? Haben die Menschen nicht ein Recht darauf, zu wissen, wer nebenan wohnt?
Leygraf:Was ist ihnen geholfen, wenn sie wissen, in ihrer Nachbarschaft lebt ein Vergewaltiger? Dann geht die Frau abends nicht mehr allein raus, die Kinder werden zur Schule gefahren. Die Gefahr, dass dieser Vergewaltiger die Nachbarin vergewaltigt, ist aber absolut minimal. Der Täter etwa in Heinsberg hat doch nicht irgendwelche Nachbarkinder überfallen. Er hat einen VW-Bulli präpariert, vor einer Disco zwei Mädchen abgefangen und mit denen ganz schreckliche Dinge gemacht. Zu denken, die werden alle in der Nachbarschaft straffällig, ist ziemlich naiv. Man schränkt die Lebensfreude der Nachbarn massiv ein, aber sicherer wird dadurch überhaupt nichts. Überhaupt ist Deutschland das Land mit der höchsten Kriminalitätsangst, aber mit der geringsten Gefahr zum Opfer einer Straftat zu werden.