Aachen. Es ist einer der letzten NS-Kriegsverbrecherprozesse, die Deutschland erleben wird. 65 Jahre nach der mutmaßlichen Tat steht Heinrich de Boere aus Eschweiler vor Gericht, weil er in Holland für die SS gemodet haben soll. Sein „Sonderkommando Feldmejer” soll wahllos zugeschlagen haben.

Eine der Kugeln besitzt er bis heute. Sie lag im Korridor seines Elternhauses. Eine von acht oder neun Kugeln, mit denen auf seinen Vater geschossen wurde. Auf Teunis de Groot, einen angesehenen Mann aus dem niederländischen Ort Voorschoten, der Juden und andere Flüchtlinge versteckte und deshalb am 3. September 1944 getötet wurde. Von Angehörigen des „Sonderkommandos Feldmejer” der „Germanischen SS in den Niederlanden”. 65 Jahre später sitzen sie sich im Aachener Landgericht gegenüber, Heinrich de Boere, der SS-Mann und mutmaßliche Täter von damals, und Teun de Groot, der als Junge die Kugel auflas.

54 Menschen ermordet

Es ist wohl einer der letzten NS-Kriegsverbrecher-Prozesse, die Deutschland erleben wird. Angeklagt ist eben jener Heinrich de Boere wegen des Mordes an Teunis de Groot und zwei weiteren holländischen Männern. Unter dem Codenamen „Silbertanne” sollen die SS-Männer mindestens 54 Menschen ermordet haben, die von den Nazis als „antideutsch” angesehen wurden.

So spektakulär dieser Prozess viele Jahre nach Kriegsende erscheint, auch angesichts der Tatsache, dass de Boere unter diesem Namen seit Jahrzehnten in seiner Heimatstadt Eschweiler lebt, so eigenwillig gestaltet sich auch der Auftakt. Die Verteidiger de Boeres verlangen nämlich noch vor der Anklageverlesung die Ablösung von Oberstaatsanwalt Ulrich Maaß. Der Leiter der Dortmunder Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft für NS-Verbrechen sei „schon jetzt völlig festgelegt” auf die Schuld des Angeklagten, dieser habe deshalb „kein faires Verfahren” zu erwarten. Der Vorsitzende Richter Gerd Nohl beschließt an diesem Morgen deshalb nach mehreren Unterbrechungen des Prozesses dessen Vertagung auf Montag.

De Boere, inzwischen 88-jährig, sitzt in seinem Rollstuhl hinter der Anklagebank, wirkt erheblich jünger als er ist und vor allem sehr gelassen. Leicht nach vorne gebeugt, blickt er selbstbewusst in die Kameras vor ihm, lächelt sogar einmal leicht. Vor zwei Jahren hat er in einem Interview mit dem Spiegel gesagt, er bereue, „was 1944 passiert ist”, es tue ihm leid. Er bete sogar jeden Abend für die Getöteten. Das Sonderkommando Feldmejer, dem er angehörte, hatte die Lizenz zum Töten, sollte den aufkeimenden Widerstand in den Niederlanden durch wahllose Erschießungen brechen. Sie kamen also, schossen und verschwanden wieder. So wie bei Teunis de Groot, dem Fahrrad-Händler aus Voorschoten nahe Den Haag.

Der in Eschweiler als Sohn eines Holländers geborene de Boere hatte sich 1940 freiwillig zur Waffen-SS gemeldet, kämpfte zwei Jahre an der Ostfront, um dann dem Sonderkommando „Feldmejer” zugeordnet zu werden. Die, die sie töteten, so erklärte de Boere einmal, hatten sie nicht einmal gekannt.

1949 verurteilt ein Sondergericht in Amsterdam de Boere zum Tode. Die Strafe wird später in lebenslänglich umgewandelt. De Boere flieht aus niederländischer Haft ins heimatliche Eschweiler, arbeitet erst als Bergmann, lebt dort heute in einer Senioren-Residenz. Das lange Tauziehen zwischen der niederländischen und der deutschen Justiz um ihn bleibt jahrzehntelang ohne Folgen. Erst 2003 verlangen die Niederländer erneut eine Vollstreckung ihres Urteils. Parallel hatte sich die Dortmunder Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft in Person von Ulrich Maaß des Falles erneut angenommen.

Jahre darauf gewartet

So sitzen sie sich also gegenüber. Zum ersten Mal. Und man ist versucht, es mit „von Angesicht zu Angesicht” zu betonen. De Boere und de Groot, der Sohn des Fahrradhändlers. Als Nebenkläger ist der 76-Jährige aus den Niederlanden eingereist und sagt: „Die letzten zehn Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet. Ich möchte wissen, ob er es wirklich bereut.”

Doch am Ende dieses ersten Prozesstages ist Teun de Groot enttäuscht. Tief enttäuscht. All die Erwartungen. Sogar eine eigene Erklärung hat er für diesen wichtigen Tag in seinem Leben vorbereitet. Doch solange die Anklage nicht verlesen ist, kann er sie nicht vortragen. „Es tut mir leid”, sagt sein Anwalt Detlef Hartmann und legt de Groot tröstend die Hand auf die Schulter. Just in diesem Moment wird de Boere in seinem Rollstuhl an ihnen vorbeigefahren. De Groots Blick folgt ihm, verliert sich gedankenschwer im Raum.

Wenig später wird er vor dem Gerichtssaal erklären, wie „wütend” er ist wegen der „Tricks der Verteidiger”. Er sagt das in viele Kameras, deutsche und niederländische. Und er sagt, dass er nichts empfunden habe außer Mitleid für ein „Häuflein Mensch”. De Groot: „Den Schmerz über den Verlust kann mir niemand nehmen”.