Aachen. Am zweiten Prozesstag gegen SS-Mann Heinrich Boere fordert sein Anwalt die Einstellung des Verfahrens: Sein Mandant sei bereits verurteilt. Die Söhne des Opfers sind sauer: Deutschland sei seiner Verantwortung nicht nachgekommen.

Es wird Zeit: Die ganze Sache ist jetzt 65 Jahre her, der Mann 88 und das erste Urteil auch schon sechs Jahrzehnte alt. „Im Namen der Königin” beschied das niederländische „Bijzonder-Gerecht” 1949, was ja nicht einmal der Angeklagte selbst je bestritten hat: dass der Schuhmacher Heinrich Boere aus Maastricht im Kriegsjahr '44 drei Menschen erschossen hat. Mit einer Waffe, die er stets in der rechten Manteltasche trug und die „allen guten Niederländern verboten war”. Boere aber war kein guter Niederländer, er war in der „Germanischen SS”, er zog aus, Menschen zu töten: den Fahrradhändler Teunis de Groot aus Voorschoten, den Apotheker Bicknese aus Breda, und Frans Willem Kusters in Wassenaar.

So viele Jahre, wenig Zweifel und wieder eine Gerichtsverhandlung, aber sie tun sich immer noch schwer. Am zweiten Tag hat das Aachener Schwurgericht unter den sehr interessierten Augen der niederländischen Öffentlichkeit endlich richtig angefangen mit dem Prozessieren, da wäre nach dem Willen der Verteidiger am besten endgültig Schluss: Nachdem er vergeblich versucht hat, den Staatsanwalt wegen Befangenheit austauschen zu lassen, beantragt Gordon Christiansen die Einstellung des Prozesses. Es gebe doch schon ein Urteil, und „Doppelverfolgung” wegen ein- und derselben Straftat sei nicht rechtens.

Ausliefern oder nicht?

Nur hat Boere, der in seinem Rollstuhl die Augen meist geschlossen hält und bisweilen aussieht, als würde er schlafen, seine lebenslange Strafe niemals abgesessen. Er entkam, weil er floh und sich versteckte, aber auch, weil die Juristen dies- und jenseits der Grenze stritten um den Rentner aus Eschweiler. Ausliefern oder nicht? In Deutschland bestrafen oder nicht? Sie waren ja nicht einmal einig über seine Staatsangehörigkeit: Man kann die Verunsicherung hören daran, wie sie im Saal seinen Namen sagen. „Böre” die einen, „Bure” die anderen, was die holländische Aussprache ist. Herr „Böre” würde sich erklären durch einen Hitler-Erlass, der jeden nach zwei Jahren bei der SS automatisch zum Deutschen machte. Der Angeklagte, Sohn eines Niederländers, diente fünf Jahre. Was aber zählt Hitler, was darf der heute noch zählen?

Wie schwierig der Umgang mit NS-Verbrechern noch ist, steht auch in den Gerichtsbeschlüssen aus all den Jahren, aus denen Richter Gerd Nohl geduldig vorliest: Boere habe stets nur „auf Anordnung seiner Vorgesetzten gehandelt”, notierte ein Dortmunder Staatsanwalt noch in den 80er-Jahren, zudem hätten sich seine Taten gegen illegalen Widerstand gerichtet. „Keine Überschreitung der Humanitätsgrenzen” sei da zu erkennen und „Heimtücke nicht festzustellen”.

Verfrühtes Plädoyer

Einige Zuschauer halten da entsetzt die Luft an, andere aber lassen sie in kleinen Lachsalven los. Auch das sagt viel über diesen deutschen Prozess, der, so Nebenkläger-Anwalt Detlef Hartmann, bei allen juristischen Scharmützeln doch diesen Kernpunkt hat: „Es geht um ungeheuerliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit, um eine der schlimmsten Terror-Organisationen – und es ist noch immer nicht vorbei!” So gerät seine Stellungnahme zu einem verfrühten Plädoyer für die Aufarbeitung der Nazizeit, „wir haben eine Verantwortung vor der Geschichte”, sagt Hartmann. Die fordern auch die Söhne des toten Apothekers ein: Man sei erbittert über die deutsche Justiz, lassen sie ausrichten; Deutschland sei seiner Verantwortung nicht nachgekommen. Anwalt Hartmann aber meint vor allem Boeres aktuelle Verteidigung: Ihr wirft er vor, mit den Anträgen das Verhältnis Opfer-Täter verkehren zu wollen: „Sie stellen ihre Mandanten dar als beklagenswertes Opfer der Machenschaften der Staatsanwaltschaft!”

Mord aus Heimtücke

Die Anklage gegen Heinrich Boere, am zweiten Prozesstag verlesen, lautet auf Mord aus Heimtücke und niederen Beweggründen. Danach ließen sich die SS-Männer von ihren Opfern die Ausweise zeigen, bevor sie sie niederstreckten. Boere selbst soll stets zwei- bis dreimal geschossen haben. Die Staatsanwaltschaft spricht von „Hinrichtungen”.

Es gibt noch einen außer Boere, der nach 65 Jahren erzählen könnte, wie alles wirklich war. Aber Peter B., der ebenfalls 88-jährige verurteilte Mittäter, folgt der Ladung am Montag nicht. Auch ein anderer Prozessteilnehmer ist nicht erschienen: Für den Sohn des Fahrradhändlers de Groot war schon der Auftakt in der letzten Woche zu viel. Seine Erklärung, die der Nebenkläger verlesen wollte, lässt er nun zweisprachig zitieren– ein Appell an den Angeklagten: „Wenn du wirklich bereust, dann akzeptiere das Urteil.”