Berlin. Trotz steigender Ärztezahlen wird einer neuen Analyse zufolge der wachsende Bedarf immer weniger gedeckt. Hintergrund sind die neuen medizinischen Möglichkeiten und kürzere Arbeitszeiten der Mediziner. Nötig sei eine bessere Vergütung, fordert der Vizepräsident der Ärztekammer, Montgomery.
2008 stieg die Zahl der berufstätigen Ärzte nach Daten der Analyse, die von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung erstellt wurde, um 1,5 Prozent auf 319.697. Seit 1991 wuchs sie um mehr als 30 Prozent. Trotzdem verringerte sich die von allen Ärzten zusammen geleistete Arbeitszeit seitdem um 1,6 Prozent, wie KBV-Experte Thomas Kopetsch sagte. Der Vizepräsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, sagte am Dienstag in Berlin: «Wir bewegen uns auf eine Wartelisten-Medizin zu». Zu bekämpfen sei dies nur mit besserer Vergütung und besseren Arbeitsbedingungen für die Mediziner.
Er erklärte dies unter anderem damit, dass es immer mehr Ärztinnen gibt und Frauen im Schnitt geringere Arbeitszeiten haben. Außerdem schlage der allgemeine Trend zur Arbeitszeitverkürzung auch bei den Medizinern durch.
"Expansion des Möglichen"
Gleichzeitig wächst der Bedarf. «Die Expansion des Möglichen in der Medizin führt zu einem deutlich erhöhten Ärztebedarf», sagte Kopetsch. Zum Beispiel gebe es erst seit dem ersten Retortenbaby von 1978 Bedarf an In-Vitro-Fachleuten. Auch spezialisieren sich die Mediziner immer stärker. 1924 gab es der Analyse zufolge nur 14 unterschiedliche Fachgruppen, heute sind Mediziner mit 160 verschiedenen Fachbezeichnungen am Markt.
Darüber hinaus schlägt dieser Analyse zufolge bereits die Demografie durch. Machten 1991 die Über-60-Jährigen 20,4 Prozent der Bevölkerung aus, so lag der Anteil 2007 bereits bei 25,3 Prozent - ein Zuwachs um ein Fünftel. Ab 60 nimmt statistisch gesehen der Behandlungsbedarf stark zu. Er liegt bei 326 Prozent dessen, was Unter-60-Jährige benötigen, wie Kopetsch sagte.
Auch Patienten spürten den Ärztemangel bereits, sagte Montgomery. Sie beklagten Wartezeiten und kämen schwieriger an Termine für hochspezialisierte Angebote. In den Krankenhäusern seien in vielen Abteilungen 20 bis 50 Prozent der Stellen unbesetzt. Mangel gebe es auch auf dem Land, nicht nur in den neuen Ländern. Seien noch vor zehn Jahren Tausende Mediziner arbeitslos gewesen, so verzeichne man nun «Traumarbeitslosenraten» von nur ein bis zwei Prozent. Rund 1.000 Mediziner pro Jahr verliere man unter dem Strich an das Ausland, sagte der Kammervizepräsident.
Kritik an der Honorarreform
Montgomery appellierte an die Politik, die Bedingungen zu verbessern. Moderne junge Menschen seien nicht mehr bereit, ihren Lebensstil dem Beruf unterzuordnen und Überstunden ohne Ende zu leisten. Nötig seien mehr Stellen in Krankenhäusern und eine bessere Vergütung, bessere Honorare für niedergelassene Ärzte sowie flankierende Maßnahmen wie Entlastung von Bürokratie oder Ausbau von Kinderbetreuung, sagte er.
Die gerade von Ärzten und Kassen vereinbarte Nachbesserung der Honorarreform kritisierte Montgomery. Es handele sich nur um eine Umverteilung: Einigen Ärzten werde mehr gegeben, anderen etwas weggenommen. Nötig sei jedoch mehr Geld. Eine Summe wollte er jedoch nicht nennen. Auch der zusätzliche Bedarf an Ärzten in den kommenden Jahren sei noch nicht zu beziffern. Man stehe erst am Anfang der Analyse. Nötig sei mehr Versorgungsforschung, sagte Montgomery. (ap)