Berlin. Parteifreunde sagen, Sigmar Gabriel könnte dem Papst ein Doppelbett andrehen. Das ist als Lob gemeint. Dann sollte es ihm auch gelingen, die Wähler wieder mit der SPD zu versöhnen.
Wenn nicht alles täuscht, fällt der scheidende Umweltminister die Treppe rauf und wird der künftige Parteivorsitzende. So ist es ausgekungelt. Daran glauben mag man erst, wenn er Mitte November wirklich gewählt sein sollte.
Beliebt ist Gabriel nicht, jedenfalls nicht in der mittleren Funktionärsschicht, wo er sich durch sein oft harsches Auftreten reichlich Feinde machte. Ebenso wenig hat er eine Hausmacht. Bei Wahlen in den Vorstand oder ins Präsidium der SPD wurde er häufig abgestraft. So war es 2005 und erneut zwei Jahre später. Gabriel war meist ein Kandidat für den zweiten Wahlgang. Eine Zitterpartie war auch die Bundestagswahl. Auf die Liste der Partei konnte er nicht hoffen. Seinen Wahlkreis musste der Mann direkt holen.
Bei aller Ernsthaftigkeit ist die Politik für den 50 Jahre alten Gabriel „auch Abenteuer und Wagnis”. Risikofreudig ist der Sozialdemokrat aus Goslar. Das Spielernaturell verbindet ihn mit Gerhard Schröder und trennt ihn vom neuen Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier. Die Frage ist nicht, ob sie beide und Andrea Nahles als Dritte im Bunde – als Generalsekretärin – zueinander passen. Das tun sie nicht. Die Frage ist vielmehr, wie sie sich ergänzen. Aus eigener Kraft wird er kaum Parteichef. Er braucht Nahles wie Steinmeier, ihre Stimmblöcke auf Parteitagen.
Als Redner ist Gabriel eine Wucht
Als Integrationsfigur wäre er überfordert. Spätestens hier muss man auf Olaf Scholz, Klaus Wowereit und Hannelore Kraft zu sprechen kommen. Sie alle werden eine Rolle in der künftigen Führung spielen – und Gabriel in ein Team zwingen. Was Gabriel mitbringt und den Anderen oft abgeht, spürt man als Zuhörer sofort: Leidenschaft und Tuchfühlung zu den kleinen Leuten. Als Redner ist er eine Wucht. „Nordkurventauglich” will er sein. Wenn jemand die Union im Wahlkampf aufgeregt hat, dann er mit dem Thema Atomenergie.
Dass mit ihm als Parteichef ein Linksruck verbunden sein dürfte, ist ein offenes Geheimnis. Man muss dafür nur sein Buch lesen: „Links neu denken. Politik für die Mehrheit.” Man spürt bei der Lektüre, wie er mit der SPD hadert. Neu ist die Selbstdisziplin, die er seit Monaten an den Tag legt. Er stellte sich in den Dienst der Partei und verkniff sich einiges. Vielleicht ein Zeichen von Reife.
Was gegen ihn spricht, ist seine ruhelose und aufbrausende Art. Er ist auch politisch unstet. Viele Parteifreunde stehen Schlange, um offene Rechnungen mit ihm zu begleichen. Wobei Querelen die gesamte niedersächsische SPD-Führung kennzeichnen.
Der folgenreichste Einschnitt in seinem politischen Leben war die Abwahl als Ministerpräsident in Niedersachsen im März 2003. Ausgerechnet Christian Wulff, der in der SPD lange belächelt wurde, musste sich Gabriel geschlagen geben. Eine Zeit lang stand er neben sich. Dann fing sich Gabriel und startete in der Bundespolitik neu durch. Nun hat er stets Förderer gehabt. Im Bund zählen dazu die alten Männer der SPD, Peter Struck und Franz Müntefering. Eigentlich sollte er Struck an der Spitze der Fraktion beerben. Nun folgt er eher Müntefering.
Sein Aufsteiger-Ehrgeiz erinnert an Schröder
Die Bilanz als Umweltminister ist zumindest zwiespältig; da fallen einem schon die Pannen mit der Beimischung von Bioethanol bei Benzin und den unwirksamen Rußpartikelfiltern ein. Aber die Energieleistung, Rückschläge wegzustecken, beeindruckt.
Viele neue Mitglieder
Nach ihrer dramatischen Wahlschlappe am Sonntag verzeichnet die SPD in Bayern und NRW hunderte Neueintritte. Die NRW-SPD kann sich über rund 500 neue Genossen seit dem Wahlsonntag freuen, sagte eine Parteisprecherin am Mittwoch. „Es kommen laufend neue Mitgliedsanträge rein”, fügte sie hinzu. Der größte Landesverband der SPD hat rund 137 000 Mitglieder. Auch in Bayern gibt es bei der SPD mehrere Hundert Neueintritte, wie ein Parteisprecher gestern sagte.
Dieses unbändige, urwüchsige Streben nach oben – gegen alle Widerstände, Kritiker, Neider – kennt man sonst von Schröder oder von Klaus Wowereit, mit denen er vieles gemeinsam hat. Sie alle wuchsen ohne Vater und in einfachen Verhältnissen auf und boxten sich in der SPD durch und nach oben.
Das Kämpferherz hat Gabriel von der Mutter. Sieben Jahre lang stritt die Krankenschwester um das Sorgerecht für ihn. Zeitweise galt er als ein Fall für die Sonderschule, ab und zu schaute jemand vom Sozialamt vorbei: Ob die Mutter mit der Erziehung des Bengels nicht überfordert sei? „Als ich das Abitur bestanden hatte”, erinnert sich der Sozialdemokrat, „ging sie zu dem Beamten, um ihm mein Zeugnis zu zeigen.” Gabriel hatte es allen bewiesen.