Gelsenkirchen. Am Stammtisch der Emscherpiraten geht es nach der Wahl nüchtern weiter. Denn eine Partei zu erfinden, ist harte Arbeit - und ein Abenteuer.
Zwei Prozent – ein Achtungserfolg und ab in die Versenkung? Wer die Piraten nach der Wahl besucht, der kann noch immer die Werdung einer Partei erleben. Am Stammtisch der „Emscherpiraten” werden immer wieder neu die kleinsten Bausteine aufgetürmt, aus denen Politik gemacht ist: Rednerlistenplatz und Tagesordnungspunkt, Überzeugung und Eitelkeit. Das Gerangel in der rustikalen Crêperie in Gelsenkirchen-Buer zeigt, dass Politik immer neu erfunden werden muss. Zumal, wenn man vorsätzlich anders sein will. „Warum bringst Du keine Lyrik, warum müssen wir bei uns immer nur politische Blogs haben? Wir sind doch die Piraten.”
Alles ist möglich, soll das heißen. Aber Holgers Vorschlag an die Adresse von Jale ist dann doch einer der wenigen, die nicht ausdiskutiert werden. Die Außendarstellung ist das große Thema am Montagabend nach der Wahl . . . ach ja, die Wahl: „Ich denke, wir haben ein Superergebnis erzielt. Da kann sich jeder einzelne auf die Schulter klopfen”, sagt Heiko Jelinkar, 38, Werkstoffprüfer, der die Politik zu öde fand und endlich mal mit der Faust auf den Tisch hauen wollte. Stattdessen wird heute zart auf Holz geklopft. Und regelrecht staatstragend klingt es, wenn der blondierte Pirat erklärt: „Die Wahlbeteiligung war unter aller Kanone. Da sollten alle Parteien mal überlegen, wie sie Wähler zurückholen.”
Tapeziertische ade! Wahlkampferstattung olé!
Kein Jubel, kein Anstoßen bei den 17 Versammelten, fünf davon neue Interessenten; fast beiläufig entern die Piraten. Zwei Prozent sind zwar nicht viel gemessen am Anspruch (Fünf-Prozent-Hürde). Aber sie bedeuten doch die Möglichkeit einer Professionalisierung. „Erstmals bekommen wir jetzt Gelder vom Staat und müssen unsere Stände nicht mehr aus Tapeziertischen bauen”, sagt Christoph Kerls, 34, Stammtischgründer.
Ein besserer Start als die Grünen
Bundesweit erhielten die Piraten 2,0 Prozent. Die Grünen schnitten bei ihrer ersten Bundestagswahl 1980 schlechter ab: mit 1,5 Prozent.
Dass sich Straßenarbeit lohnt, zeigt die Wahlanalyse: In allen Gelsenkirchener Wahlbezirken erreichten die Piraten 1,7 bis 1,8 Prozent – selbst in Süd, wo sie kein einziges Plakat geklebt haben. Kleinräumiger betrachtet, sind die Piraten nach eigener Aussage dort über zwei Prozent gekommen (bis zu 3,5 Prozent), wo sie Flyer verteilt und Infostände aufgebaut hatten.
Gegründet wurden die deutschen Piraten 2006 in Anlehnung an die schwedische Piratpartiet. Der Name bezieht sich auf eine Kampagne gegen Raubkopien (engl. Piracy).
Doch welches Politikangebot will man dort unterbreiten? Die Piraten sind gegen Intenetsperren und Patente, aber für freies Kopieren (zum Beispiel von Musik und Software) und mehr Datenschutz. Mit den noch sehr inkonsistenten Forderungen der Piraten deutet sich der größte Konflikt der Informationsgesellschaft an: Sollen Informationen ein handelbares Gut sein oder frei? Daraus folgt auch das wohl größte Vorhaben der Piraten: Das Internet als Demokratisierungstechnologie ernst zu nehmen. Direktere Demokratie – das wollen wohl alle am Tisch. Und Bildung, das deutet sich an, wird das nächste Thema der Piraten.
Darüber hinaus gerät der potenzielle Landtagskandidat Klaus Hammer, 42, Unternehmer, ins Schwimmen. Was will die Partei in der Kommunalpolitik? Keine Antwort – wie auch? Der meistgehörte Satz des Abends lautet: „Das muss breiter ausdiskutiert werden.”
Und das fängt ganz unten an: Gratuliert man dem politischen Gegner? Soll ein „Danke” über die Plakate gekleistert werden? Darf der Kandidat in spe zu bundespolitischen Themen bloggen, zu denen noch keine Parteiposition existiert?
Und dann: Riesenkrach um die geplante, versprochene oder auch nur angedeutete Beteiligung der Piraten an einem Jugendprojekt auf Einladung, Anregung oder auch nur Information durch die SPD. Man lässt Hammer das nicht genau erklären, bei den Piraten ist es so wie überall: Wer sich anschreit, will meist nur ausreden können.
Auch die Grünen haben sich gern zerfleischt
Christoph Kerls bemerkt: „Man driftet ein wenig ab in Richtung Selbstzerfleischung.” Aber so war es auch bei den Grünen, die ihre allererste Fraktionssitzung öffentlich abhielten. Auch ob die Grünen ein eher linkes oder rechtes Projekt werden würden, war am Anfang nicht klar.
Aber wie wäre es mit einem Tag der Generationen? Und wo wäre dabei, ganz ernsthaft, die Grenze zwischen Politik und Spaß zu ziehen? „80/20 oder 60/40?” Wie auch immer, es wäre ein erster zarter Einstieg in die Kommunalpolitik, wenn sich auch die Frage stellt: Woher die Generationen nehmen? „Ich finde Flyer vor Schulen doch ziemlich analog.” Christoph Kerls macht einen Punkt. „Ich dachte, wir sind die Partei der sozialen Netzwerke.” Doch siehe da, der jüngste outet sich: „Ich bin in gar keinem Netzwerk”, sagt Alexander Schilling, 16 Jahre. „Aus Protest” Verstehe einer die Piraten!
Alex soll schließlich ein Konzept erarbeiten, wie man die Jugend erreichen kann. Und ein zartes Lächeln der Erleichterung zeigt sich auch nach dieser Entscheidung. Nichts anderes ist Politik ja: ein System, um verbindliche Entscheidungen herbeizuführen. Und so entsteht also Politik: Punkt für Punkt. Und wenn die Etablierten rätseln, warum das bei den Piraten spannend wirkt und bei ihnen nicht, sollten sie Alexander Schilling zuhören: „Das Wichtigste bei den Piraten ist: Hier kann man direkt mitmachen.”
Man kann es auch anders sagen: Die Piraten sind unfertig. Weil man sie noch gestalten kann, verkörpern sie das Prinzip Individualisierung in der Politik. Denn was haben die zwei Prozent gewählt, wenn nicht die Katze im Sack? Wohl die Hoffnung, dass diese Partei anders wird – dass sie den ganz eigenen Themenmix trifft. Falls sie jemals wird.