Washington. Die Proteste in den USA gegen Israel eskalieren. Antisemitismus bricht sich Bahn. Präsident Biden macht eine unglückliche Figur.
Austin (Texas), Berkley (Kalifornien), Harvard (Massachusetts), Columbia (New York), George Washington (Washington DC), Atlanta (Georgia) – die Liste der Universitätsstädte in den USA, in denen der Streit um anti-israelische und pro-palästinensische Demonstranten eskaliert, ließe sich beliebig fortsetzen. Ein landesweiter Flächenbrand ist entstanden. Die Dynamik ist noch unübersehbar. Aber schon jetzt drängt sich der Eindruck auf, dass die Regierung von Joe Biden schwer unter Druck gerät. Junge Wähler laufen den Demokraten (in Umfragen) weg. Kann die Krise in Gaza am Ende den Republikaner Donald Trump ins Weiße Haus spülen?
„Brennt Tel Aviv nieder“, „Hamas, mach uns stolz“ – Ruf nach der Nationalgarde
Die Zeiten, als Plakate der israelischen Hamas-Geiseln von den Wänden gerissen und jüdische Studenten verbal attackiert wurden, sind vorbei. Inzwischen kommt an vielen Unis die Polizei zum Einsatz, lässt Hubschrauber kreisen, räumt Protest-Zeltlager, nimmt landesweit bis fast 1000 Studenten vorübergehend fest, denen nach Rufen „Brennt Tel Aviv nieder“ oder „Hamas, mach uns stolz“ blanker Antisemitismus vorgeworfen wird. Vereinzelt wurden schon Fakultäten vorübergehend geschlossen und der Lehrbetrieb auf Online-Vorlesungen umgestellt. Erste Politiker, die aus dem gesellschaftlichen Rumoren Kapital schlagen wollen, wie der republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses, Mike Johnson, rufen sogar beharrlich nach der Nationalgarde, um für Ruhe zu sorgen. Schlagstöcke der Bundesstaaten-Armeen gegen Studierende?
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Eine Misere mit vielen Ursachen
Hinter der Misere, die bereits im vergangenen Herbst zum Rücktritt von drei Präsidentinnen renommierter Unis (etwa Harvard) führte, steckt ein ganzes Bündel von Ursachen:
Da ist zum einen die teilweise brachiale Staatsgewalt, mit der an einigen Hochschulen Protestcamps von der Polizei geräumt wurden. Der Einsatz von Tränengas erinnert ältere Semester an die 68er-Studenten-Proteste gegen den Vietnam-Krieg; damals starben Menschen auf dem Campus. Als zuletzt an der renommierten Columbia-Universität in New York Studenten verhaftet werden sollten, bildeten Professoren und Dozenten einen Schutzring. Sie wehren sich dagegen, dass Studenten, die sich als Aktivisten friedlich für die palästinensische Sache einsetzen, kriminalisiert und mit Ausschluss vom Lehrbetrieb bedroht wurden.
Solche Aktionen sorgen für Solidarität in der gesamten akademischen Welt. Und zwar bei Gegnern wie Befürwortern der Politik von Präsident Joe Biden im Nahostkonflikt. Dessen Problem vor allem mit jüngeren Wählern ist bald acht Monate nach dem Hamas-Terror in Israel in nahezu allen Umfragen konstant abzulesen und stellt für seine Wiederwahl-Ambition ein „echtes Problem dar“ - wie demokratische Strategen in Washington einräumen.
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Elite-Unis investieren viel Geld in Rüstungsfirmen
Viele junge Menschen an den Unis wollen nicht länger akzeptieren, dass Biden die israelische Regierung im Kampf gegen die Hamas weiter in Milliardenhöhe mit Waffen unterstützt und, ihrem Empfinden nach deutlich leiser, parallel bessere humanitäre Standards für die Menschen in Gaza einfordert. „Das geht nicht zusammen. Das verlängert nur das Sterben der Palästinenser“, sagte der 25-jährige Politik-Student Greg Jarmond bei einem Protest an der George Washington-Universität in der US-Hauptstadt. Er betont mit Blick auf landesweite Umfragen: „Wir sind nicht allein.“ Das Institut Gallup hatte zuletzt ermittelt, dass nur noch 36 Prozent der Amerikaner mit den militärischen Operationen Israels in Gaza einverstanden sind, 55 Prozent lehnen sie ab.
Ein besonderer Aspekt: Gerade reiche Elite-Universitäten wie Yale oder Harvard stecken ihr Geld, das sich hauptsächlich aus hohen Studiengebühren und Spenden solventer Gönner ergibt, in US-Rüstungsfirmen, die auch Raketen und Munition für Israel produzieren. Diese Investitionen als unethisch aufzugeben, ist eine Standard-Forderung pro-palästinensischer Studenten.
Waffenlieferung für Israel sollen gestoppt werden
Sie berufen sich dabei auf eine enge demokratische Weggefährtin Joe Bidens. Nancy Pelosi, einst als Sprecherin des Repräsentantenhauses die Nr. 3 im Staat, fordert wie etliche demokratische Kongress-Abgeordnete einen Stopp der US-Waffenlieferungen an Israel, solange nicht der humanitären Lage der Palästinenser wirklich Rechnung getragen wird. Sprich: Waffenstillstand.
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Dazu kommt Grundsätzliches. Das Recht auf freie Meinungsäußerung, prominent verankert in der Verfassung, ist an Amerikas Universitäten seit Langem ein sensibles Streitthema. Zuletzt wurde Klage darüber geführt, dass links-progressive Strömungen – von Gegnern pauschal als „woke“ verunglimpft – Meinungen systematisch unterdrückten, die nicht in ihr Weltbild passten. Heute sagen viele Studenten, die der Vorgehensweise Israels gegen die Zivilbevölkerung in Gaza absolut ablehnend gegenüber stehen, dass es ihre Wortmeldungen seien, die auf dem Campus verdrängt oder von Pro-Israel-Stimmen niedergeschrien würden.
Kritik an Israel schlägt rasch in Judenhass um
Aus deren Lager heißt es: Natürlich dürfe man offen sagen, dass man die Politik von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu nicht gutheißt. Aber: Dies mit Slogans zu verbinden, die den Mordanschlag der Hamas relativieren und die als Aufruf zur Vernichtung Israels gelten („From the river to the sea – Palestine will be free“) oder die Israels Politik in Gaza gar als legitimen Grund für den Massenmord vom 7. Oktober ansehen, überschreite eine rote Linie und sei nicht länger hinnehmbar.
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Einer, der dies am lautesten fordert, ist der demokratische Senator John Fetterman aus Pennsylvania. Er charakterisiert die laufenden Proteste als „Charlottesville für jüdische Studenten“. Hintergrund: Im Jahr 2017 waren bei einer rechtsextremistischen Kundgebung Hunderte Neonazis durch die Stadt in Virginia gezogen und lieferten sich Kämpfe mit der linken Antifa. Es gab Dutzende Verletzte und eine tote linke Gegendemonstrantin.
Bei der Moderation des aktuellen Konflikts agieren Verantwortliche, wie etwa die Präsidentin der Columbia-Universität, Minouche Shafik, nach Ansicht von Beobachtern nicht deeskalierend genug. Shafik rief die Polizei, um ein Protestcamp zu räumen. Gleichzeitig verantwortete sie Pannen wie den Entzug der Zugangskarte zum Campus für den jüdischen Professor Shai Davidai.
Biden müsste sein Gewicht in die Wagschale werfen, um die Debatte zu beruhigen
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt fehlt Joe Biden die Autorität, um die Proteste so in zivile Bahnen zu lenken, dass nicht länger die extremsten Wortführer auf beiden Seiten den Ton bestimmen. Bei der Verabschiedung der Absolventen des Morehouse College im Bundesstaat Atlanta hat der Präsident bald Gelegenheit, einen neuen Anlauf zu starten.
Die Zeit für einen Abbau der extremen Spannungen wird knapp. Zumal inzwischen jüdische Studenten-Organisationen offen beklagen, dass sie sich an US-Universitäten nicht mehr sicher fühlen und an Auswanderung denken. Nutznießer dieses Dilemmas könnte am Ende bei der Präsidentschaftswahl am 5. November der rhetorisch bisher ganz auf Netanjahus Seite stehende Donald Trump sein. Dann, wenn viele junge Wählerinnen und Wähler Joe Biden wegen des Nahostkonflikts die kalte Schulter zeigen.
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