Berlin. Militärexperte Carlo Masala erklärt, warum Putin bei Nordkorea Artilleriemunition kauft und immer noch ein Atomschlag im Raum steht.

Er zählt zu den bekanntesten Militärexperten in Deutschland: Carlo Masala. Der 55-Jährige lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Er beantwortet unserer Redaktion jede Woche die wichtigsten Fragen rund um den Ukraine-Krieg.

Russlands Präsident Wladimir Putin will vom nordkoreanischen Steinzeitsozialisten Kim Jong-un Artilleriemunition haben. Ist die Not der Russen wirklich so groß?

Carlo Masala: In den vergangenen Wochen wurde im Ukraine-Krieg relativ wenig Munition verschossen. Es ist nicht auszuschließen, dass nicht nur den Ukrainern, sondern auch den Russen langsam die Munition ausgeht. Die Russen bereiten sich auf den Winter vor, in dem man möglicherweise nicht mehr im Raum operieren kann. Die Artilleriegefechte werden aber zunehmen, um die Artillerie-Positionen des Gegners zu zerstören. Von daher ergibt es Sinn, dass Putin zusätzliche Artilleriemunition bei Verbündeten wie Kim sucht.

Lesen Sie auch: Masala wagt Prognose zu möglichem Durchbruch der Ukrainer

Laut US-Generalstabschef Mark Milley haben die Ukrainer wegen des Wetters „wahrscheinlich 30 bis 45 Tage“ Zeit für eine erfolgreiche Gegenoffensive. Hat er Recht?

Masala: Wenn man nur auf die Operation mechanisierter Verbände schaut, hat er Recht. Das heißt aber nicht, dass die Kämpfe im Winter aufhören werden. In der Ukraine redet man von ‚deep battles‘, ‚tiefen Kämpfen‘: Die Ukrainer werden versuchen, Hauptquartiere, Munitionsdepots und logistische Zentren der Russen zu zerstören. Der Krieg wird auf einer anderen Ebene weitergehen, auch wenn sich die Radfahrzeuge wegen des schlammigen Bodens nicht mehr bewegen können.

Kim Jong-un besucht den russischen Präsidenten Wladimir Putin, um über Munitionsdeals zu sprechen.
Kim Jong-un besucht den russischen Präsidenten Wladimir Putin, um über Munitionsdeals zu sprechen. © AFP | Vladimir Smirnov

Ist die ukrainische Gegenoffensive nach gut drei Monaten ein Erfolg oder ein Misserfolg?

Masala: Das ist eine offene Frage. Die ukrainische Gegenoffensive ist zumindest zum Teil erfolgreich – zum Beispiel mit dem Durchbruch durch die erste russische Verteidigungslinie bei Robotyne. Die Ukrainer tun sich aber sehr schwer mit dem Durchbruch durch die zweite Verteidigungslinie – bislang ist ihnen das wohl nur an einer Stelle gelungen. Die Frage ist: Was heißt erfolgreich? Heißt das, dass die Ukrainer bis zum Schwarzen Meer vordringen werden? Das halte ich für relativ unwahrscheinlich. Heißt erfolgreich, dass die Ukrainer die zweite und dritte Verteidigungslinie der Russen durchbrechen können? Ich denke, das ist möglich.

Außenministerin Annalena Baerbock trat bei ihrem Kiew-Besuch auf die Bremse: Bevor Deutschland die heißbegehrten Marschflugkörper „Taurus“ liefere, müssten „alle Fragen geklärt sein“, betont sie. Welche Fragen sind noch offen?

Masala: Das ist noch immer die von Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigte Prüfung, ob man das sogenannte ‚geo-fencing‘ betreiben kann. Dabei geht es um die Frage, ob man die Software der ‚Taurus‘ so verändern kann, dass bestimmte Ziele – etwa russisches Territorium – bei der Einprogrammierung tabu sind. Zu diesem Thema hat man vom Kanzler seit Wochen nichts gehört. Ein weiterer Punkt ist die enge Abstimmung mit den Amerikanern. Zentrale Frage: Werden die USA die Kurzstreckenraketen vom Typ ATACMS an die Ukraine liefern? Sie scheinen sich zumindest in diese Richtung zu bewegen.

Lesen sie auch: Ukraine: Comedy-Shows trotz Krieg – „Das ist wie Therapie“

Gibt es einen bestimmten Grund, warum der Kanzler bei der „Taurus“-Lieferung zögert?

Masala: Ich glaube, Scholz zögert auch deshalb, weil die ‚Taurus‘-Raketen in der Lage sind, die strategisch wichtige Brücke von Kertsch zu zerstören. In der Bundesregierung gibt es noch immer die Befürchtung, dass dies eine atomare Eskalation der Russen nach sich ziehen könnte. Es sieht allerdings merkwürdig aus, wenn Briten und Franzosen Raketen an die Ukrainer liefern und die Amerikaner sich auf die Lieferung von ATACMS-Raketen zubewegen. Und am Ende bleibt nur Deutschland, das sich weigert, ‚Taurus‘-Marschflugkörper zu verschicken.

Die Ukrainer haben am Mittwoch den Hafen von Sewastopol mit Raketen angegriffen, den Sitz der russischen Schwarzmeerflotte. Gerät die Krim zunehmend ins Visier der Ukrainer?

Masala: Das ist bereits seit Wochen der Fall. Es ist erklärtes Ziel der Ukrainer, die Krim so zu blockieren, dass es für die Russen extrem schwierig wird, ihre Truppen im Süden der Ukraine zu versorgen. Gleichzeitig wollen sie zeigen, dass sie wichtige militärische Installationen auf der Krim zerstören können.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt