Kiew. Der Wagner-Aufstand endete abrupt, doch er hat Spuren hinterlassen – auch an der Front. Das könnte sich vor allem für Kiew auszahlen.
Während die von Jewgeni Prigoschin angeführten Wagner-Söldner am Samstag Richtung Moskau zogen, haben sich die Kämpfe an der Front in der Ukraine intensiviert. Zum einen stößt die ukrainische Armee weiterhin an den Flanken von Bachmut im Bezirk Donezk vor – mit noch größer angelegten Angriffen als vor einigen Tagen. Aber auch im Süden der Ukraine, in Richtung der Landbrücke zur russisch besetzten Krim, gehen die Kämpfe mit höherer Intensität als zuletzt weiter.
Zumindest an drei südlichen Abschnitten sind auch kleinere Erfolge der Ukrainer zu beobachten. Ob sie ausgebaut werden können, werden die kommenden Tage zeigen. Die Intensivierung der Kämpfe ist allerdings keine direkte Folge des Wagner-Aufstands, zumal die russische Armee an ihren Stellungen verharrt, unverändert Widerstand leistet und an einigen Orten, etwa im Bezirk Luhansk, selbst angreift.
Welche Auswirkungen kann der Aufstand also auf die ukrainischen Sommeroffensive haben, die am 4. Juni begonnen hat? Nach den ersten Angriffen hatten die Ukrainer pausieren müssen – zum einen wegen des regnerischen Wetters, zum anderen, um ihre Taktik angesichts der eigenen Anfangsfehler anzupassen. Auch in den kommenden Tagen sind ganz große Durchbrüche nicht zu erwarten. Im Bezirk Saporischschja, wo sich aktuell die Kampfhandlungen konzentrieren, soll es weiter regnen. Das erschwert Offensivaktionen.
Ukrainischer Soldat: „Natürlich haben wir geschmunzelt“
Ein Großteil der für die Gegenoffensive vorbereiteten ukrainischen Brigaden war noch nicht im Einsatz. Das Gleiche gilt fürs Militärgerät: Während es bereits Berichte über zerstörte und beschädigte Leopard-Panzer gab, wurden zum Beispiel die deutschen Schützenpanzer Marder bislang nicht in Frontnähe gesichtet. „Der Feind verfügt über genug Reserven und Kräfte, um an mehreren Frontabschnitten Offensivaktionen durchzuführen“, heißt es im ukrainischen Militärkanal DeepState auf Telegram.
Der Wagner-Aufstand scheint sich zumindest kurzfristig auf eine verschlechterte Moral der russischen Soldaten und etwas mehr Chaos in der Befehlskette zu beschränken – doch selbst, wenn es dabei bleibt, spielt die Eskalation des Konflikts zwischen Prigoschin und dem russischen Verteidigungsministerium den Ukrainern in die Hände. Denn andererseits verbessert sie die Moral der ukrainischen Soldaten nach dem erwartbar zähen Beginn der Gegenoffensive.
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„Natürlich haben wir darüber geschmunzelt“, erzählt Jewhen, ein Soldat, der aktuell im Osten des Landes im Einsatz ist. „Es ist gut zu wissen, dass der Feind große interne Probleme hat. Wir sind aber mit unserer Sache beschäftigt. Die gut vorbereiteten Minenfelder der Russen verschwinden durch solche Aktionen nicht.“ Der Krieg – das sei laut Jewhen eben auch eine Täuschungsweltmeisterschaft.
Schlagkräftige russische Einheiten sind allesamt in Ukraine
Trotzdem eröffnet der Wagner-Aufstand der ukrainischen Armee theoretisch neue Möglichkeiten: Als die vermutlich von Kiew koordinierten russischen Milizen vor kurzem kleine Angriffe im grenznahen Belgorod durchführten, war der Gedanke dahinter auch, Russland zur Verlegung einiger Einheiten dorthin zu zwingen – obwohl sie stattdessen an der Front im Einsatz sein könnten. Diese Rechnung der Ukrainer ist aber nicht aufgegangen. Eine halbwegs bedeutende Truppenverlegung hat nicht stattgefunden.
Nun schaffte es die militärisch gut ausgestattete Wagner-Gruppe von der Grenze zur Ukraine bis in die Region um Moskau – ohne besonderen Widerstand der russischen Sicherheitskräfte. Und obgleich das russische Verteidigungsministerium sicher vermeiden wollte, dass es in größeren Städten wie Rostow am Don oder Woronesch zu direkten Kampfhandlungen mit Wagner-Söldnern kommt, steht fest: Die schlagkräftigsten Einheiten der russischen Armee sind allesamt in der Ukraine.
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In der Theorie könnte Belgorod für Ukraine einnehmbar sein
Unter Einsatz größerer Kräfte dürfte es für Kiew also durchaus möglich sein, eine Stadt wie Belgorod vergleichsweise schnell unter Kontrolle zu bringen. Spätestens dann müsste Moskau – anders als bei bloßen Sabotageaktionen – reagieren und bedeutende Truppen dorthin verlegen. An der Front könnten dann Lücken entstehen. Dass die Ukraine das russische Staatsgebiet tatsächlich angreift, bleibt zwar ein sehr unwahrscheinliches Szenario. Westliche Partner lehnten das bislang kategorisch ab.
Vergangenen Samstag hat sich aber endgültig bestätigt, was für Experten offensichtlich war: Geht es um die Verteidigung auf dem eigenen Staatsgebiet, steht Russland blank da. Politisch hofft man in der Ukraine, dass das Putin-Regime seine Instabilität nach dem Wagner-Aufstand noch öfter zeigen wird. „Es wird keine automatische Niederlage Russlands geben“, sagt der Politologe Wolodymyr Fessenko, der dem ukrainischen Präsidentenbüro nahe steht.. „Wir haben einen langen Kampf vor uns. Doch das Monster des russischen Imperialismus hat erneut seine innere Schwäche gezeigt.“
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