Moskau/Berlin. Artilleriegeschosse auf die Grenzregion Belgorod, Drohnenattacken auf Moskau – das wirft Fragen auf. Ein Russe poltert besonders laut.
Belgorod – immer wieder Belgorod. Fast jeden Tag steht die westrussische Region unter Beschuss. Vor allem der Bezirk und die Stadt Schebekino melden wiederholte Granatangriffe. Die Behörden des an der Grenze zur Ukraine gelegenen Gebiets haben die Einwohner aufgerufen, sich in Sicherheit zu bringen. Mehr als 4000 Menschen seien bereits in provisorischen Unterkünften untergekommen, teilte der Gouverneur der Region Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, am Sonntag mit. Unabhängig überprüfen ließen sich die Angaben nicht.
Am Sonnabend habe es erneut Luftangriffe auf die Region Belgorod gegeben, erklärte der Gouverneur. Mindestens zwei Menschen seien getötet worden. Am Donnerstag hatte die russische Armee mitgeteilt, unter Einsatz von Artillerie und Kampfjets eine versuchte „Invasion“ ukrainischer Kräfte nach Belgorod abgewehrt zu haben.
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Zu den Attacken bekannten sich die in der Ukraine operierenden paramilitärischen Einheiten „Russisches Freiwilligenkorps“ und „Legion Freiheit Russlands“. Die Verbände sollen fast überwiegend aus Russen bestehen und auch rechtsextreme Mitglieder in ihren Reihen haben. Die Regierung in Kiew bestreitet, eine direkte Verbindung mit den Milizen zu haben, doch in der Ukraine kämpfen beide gegen die Russen.
Polnisches Freiwilligenkorps will sich an den Angriffen beteiligt haben
Am Sonntag behauptete auch das polnische Freiwilligenkorps („Polski Korpus Ochotniczy“), sich an den Angriffen in der Region Belgorod beteiligt zu haben. Offiziell bestätigt wurde dies in Warschau jedoch nicht. Laut dem polnischen Portal Onet unterliegt die polnische Kampftruppe lose dem ukrainischen Verteidigungsministerium.
Der Chef der russischen Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin, übte scharfe Kritik an der russischen Militärführung. Angesichts der seit Tagen unter Artilleriefeuer stehenden Grenzregion Belgorod drohte er mit dem Einmarsch seiner Söldner, sollte das Verteidigungsministerium dort nicht „schleunigst“ Ordnung schaffen. „In dem Ministerium herrscht Chaos“, polterte Prigoschin. Die Bevölkerung brauche Schutz. „Wir werden nicht auf eine Einladung warten.“ Allerdings müsse das russische Militär Munition bereitstellen. „Sonst sitzen wir, wie es heißt, mit dem nackten Arsch auf dem Frost.“
Nicht nur Prigoschins Tiraden machen sichtbar: Russland ist verwundbar. Ende Mai gab es Drohnenattacken auf zwei Raffinerien im südrussischen Gebiet Krasnodar nahe dem Schwarzen Meer, rund 200 Kilometer östlich der Krim. Es brach Feuer aus.
Müsste die Hauptstadt nicht besser geschützt sein?
Kurz zuvor waren mindestens acht Drohnen, mutmaßlich aus der Ukraine, ins Moskauer Gebiet geflogen. Fünf wurden abgeschossen, drei davon im Nobelviertel Rubljowka im Westen der Hauptstadt. Dort besitzen zahlreiche Reiche sowie Kremlchef Wladimir Putin Immobilien. Und es war nicht der erste Drohnenangriff auf Moskau.
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Anfang Mai wurde eine Klein-Drohne über dem Senatspalast im Moskauer Kreml abgeschossen. Die spektakulären Bilder gingen um die Welt. Moskau beschuldigte die Ukraine, Kiew wies dies zurück. Bereits im Dezember letzten Jahres flogen Düsendrohnen der ukrainischen Armee rund 600 Kilometer über russisches Gebiet bis zum Militärflugplatz Engels im Gebiet Saratow. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums wurden bei den Angriffen drei Soldaten getötet und vier weitere verletzt.
Die ukrainischen Drohnen waren uralte Modelle vom Typ TU-141, gebaut zu Sowjetzeiten. Später wurden sie zwar modifiziert, sind aber nicht vergleichbar mit modernen Kampfdrohnen. Trotzdem erreichten sie ihre Ziele. Anwohner des Militärflugplatzes waren beunruhigt. Viele fragen sich: Wie steht es um die russische Luftabwehr – zumal rund um die Hauptstadt Moskau, die besonders geschützt sein müsste?
Luftabwehr ist heute drei- bis viermal geringer als in 1990er Jahren
Dort ist das Raketen- und Geschützsystem Panzir auf Gebäuden wie dem Verteidigungsministerium stationiert. „Die Raketen haben auf dem Papier eine Reichweite von 20 Kilometern, in der Praxis treffen sie aber nur auf fünf bis sechs Kilometer Entfernung“, sagte der Militärexperte Gustav Gressel von der Berliner Denkfabrik European Council on Foreign Relations unserer Redaktion. „Für eine Metropole wie Moskau ist das nicht viel. Zudem gibt es viele hohe Gebäude, die das Schussfeld versperren“.
Es ist zwar noch einen weiteren Gürtel von SA-10-Flugabwehrraketensystemen rund um Moskau installiert, eine Variante des S-300-Systems. Doch der Schutz scheint insgesamt löchrig zu sein. Zu diesem Schluss kommt auch der Verteidigungsexperte Sergej Chatyljow, der von 2007 bis 2009 Chef der Flugabwehrraketentruppen des Spezialkräftekommandos der russischen Armee war. Seiner Meinung nach ist die Luftabwehr rund um Moskau heute drei- bis viermal geringer als in den 1990er- Jahren. Damals sei beschlossen worden, die Streitkräfte zu reduzieren – einschließlich der Luftverteidigung.
Die Luftabwehr rund um Moskau sollte um mindestens das Vierfache verstärkt werden, fordert Chatyljow. „Wir müssen jetzt unbedingt die Zahl der Flugabwehrraketendivisionen und Radarstationen erhöhen, die Ziele in niedrigen und extrem niedrigen Höhen erkennen können. Diese Anlagen sollten entlang der Grenzen der Region Moskau und weiter entlang der Grenze zur Ukraine errichtet werden.“ Hauptproblem sei die niedrige Flughöhe von Drohnen, die zum Teil weniger als 50 Meter betrage.
Bei sensiblem Radar wird jedes Pizzaboten-Moped erfasst
Doch sensiblere Radargeräte schaffen ein anderes Problem. „Wenn ich die Parameter so herunterstelle, dass mir das Radar auch ganz kleine und langsame Ziele anzeigt, dann erfasse ich auch jedes Pizzaboten-Moped. Das überflutet die Bediener mit zu überprüfenden Zielen“, betont Militärexperte Gressel. Darüber hinaus hat die russische Luftabwehr offenbar ein strukturelles Handicap: „Russische Flugabwehrsysteme sind sehr stark davon abhängig, ob der Radar-Operateur aufpasst oder nicht.“
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Die Systeme seien „sehr bedienerlastig, weil sie im Gegensatz zu westlichen Systemen einen geringen Automatisierungsgrad haben“, unterstreicht Gressel. „Sie sind extrem anfällig für das Routine-Problem: In dem Moment, in dem sich die Radar-Operateure für zwei Minuten einen Kaffee holen, kann der Angriff kommen – und es ist zu spät.“ An der Front seien die Bedienmannschaften ständig gefordert, da sei die Aufmerksamkeit hoch. „Aber im Hinterland oder wenig beübten Systemen passieren ständig Fehler.“
Solche Routinefehler hätten vermutlich dazu geführt, dass der russische Kreuzer Moskwa im April 2022 von den Ukrainern versenkt worden sei, so Gressel. Die Schwächen der russischen Luftabwehr reichen allerdings viel länger zurück – möglicherweise haben sie auch mit der riesigen Ausdehnung des Landes zu tun. Am 28. Mai 1987 sorgte der Hamburger Pilot Mathias Rust weltweit für atemberaubende Bilder, als er mit seinem Kleinflugzeug vom Typ Cessna 172 P unweit vom Roten Platz in Moskau landete. Sowjetische Radarwarnung: Fehlanzeige.
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