Berlin. Am Donnerstag sollen die Wartungen an Nord Stream 1 beendet sein – doch eine Turbine fehlt. Ein Vorwand für weitere Lieferausfälle?
Zitterpartie um die Gasversorgung in Deutschland: Am Donnerstag sollen die Wartungsarbeiten an der Gaspipeline Nord Stream 1 eigentlich beendet sein – doch jetzt wächst die Sorge, dass Russland die Gaslieferungen nicht wieder aufnimmt, zumindest vorerst. Denn noch fehlt die Verdichterturbine für die Kompressorstation Portowaja an der russischen Ostseeküste, wo der Energiekonzern Gazprom das Erdgas in die Nord Stream-Pipeline nach Lubmin einspeist.
Gazprom hat die Gaslieferungen bereits im Juni deutlich gedrosselt und dies auch mit der fehlenden Turbine begründet, die in Kanada gewartet wurde, seit Montag voriger Woche fließt gar kein Gas mehr. Von der Turbine hänge die verlässliche Arbeit der Gasleitung und die Versorgung der europäischen Verbraucher ab, warnte Gazprom erst am Wochenende.
Doch diese Turbine wird nicht bis Donnerstag eingebaut sein: Zwar ist sie am Sonntag nach Deutschland transportiert worden, nach Informationen unserer Redaktion traf sie erst am Montag am Flughafen Köln ein und wurde dort verladen. Doch bis sie am Bestimmungsort im russischen Portowaja ankommt, dürfte es noch Tage dauern – vorausgesetzt, es gibt keine Komplikationen beim Transport oder beim Zoll. Und die Montage dürfte weitere Zeit in Anspruch nehmen.
Die Bundesregierung hält die Turbine nur für einen Vorwand zum Gas-Lieferstopp
Der Turbinen-Hersteller Siemens Energy wollte sich zum Verfahrens-Stand nicht äußern. Es bleibe dabei, „dass es unser Ziel ist es, die Turbine so schnell wie möglich zu ihrem Einsatzort zu transportieren“, teilte das Unternehmen mit. Die Bundesregierung erklärte, wegen Sicherheitsfragen könne keine Auskunft gegeben werde, wo sich die Turbine befinde.
Das Wirtschaftsministerium fürchtet aber, dass der russische Präsident Wladimir Putin die Turbine nur als Vorwand für den Lieferstopp nutzt. „Nach unseren Informationen ist diese Turbine eine Ersatzturbine, die für den Einsatz im September bestimmt war“, sagte eine Sprecherin von Minister Robert Habeck (Grüne). Mit der Lieferung, für die sich die Bundesregierung eingesetzt hatte, solle Russland der Vorwand genommen werden.
Der Poker um die Gaslieferungen geht damit in die Verlängerung: Die Bundesregierung plant bereits eine Krisen-Sitzung mit den Regierungschefs der Länder, sollte der Gashahn zugedreht bleiben. Im Kanzleramt wird davon ausgegangen, dass Russland die Lieferungen zumindest drosseln wird – womöglich unter neuen Vorwänden. Darum stellt sich Regierung auf eine Notlage bei der Gasversorgung ein.
Bayern will die Gas-Notlage schon jetzt ausrufen lassen
Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) verlangte von der Bundesregierung, diese Notlage sofort auszurufen. Das sei Voraussetzung dafür, Gasgroßkraftwerke herunterzufahren, große Mengen Erdgas einzusparen und so die Gasspeicher füllen zu können, sagte Aiwanger der „Augsburger Allgemeinen“. Bayern hat bisher einen besonders großen Anteil seines Erdgases aus Russland bezogen, vor allem über eine Gasleitung aus Tschechien. Die Staatsregierung hat die Sorge, dass die ersatzweisen Erdgaslieferungen aus Norwegen, den Niederlanden und Übersee zwar den Norden Deutschlands versorgen, nicht aber den Süden.
Die Bundesnetzagentur versichert zwar, die räumliche Entfernung solle im Krisenfall nicht zum Nachteil für Bayern werden. Doch ist die Nervosität ist bei Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und seiner Regierung in München besonders hoch, auch weil die Gasspeicher im Freistaat noch weniger gefüllt sind als im Bundesdurchschnitt: Deshalb kommen besonders aus dem Freistaat jetzt Rufe nach einem längeren Weiterbetrieb der letzten drei Atomkraftwerke, deren Abschaltung Ende 2022 geplant ist – besonders geht es der Staatsregierung um das bayerischen Atomkraftwerks Isar 2 bei Landshut.
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Industrie fordert neue Regeln für Gasverteilung im Notfall
Wirtschaftsminister Habeck kommt den bayerischen Sorgen insofern entgegen, als er jetzt einen weiteren Stresstest für die Stromversorgung in Auftrag gegeben hat. Äußerungen von Grünen-Chefin Ricarda Lang weckten zudem den Eindruck, dass die Absage der Grünen an eine Akw-Laufzeitverlängerung möglicherweise nicht das letzte Wort ist.
In der Sendung Anne Will erklärte Lang, dass längere Laufzeiten „Stand jetzt nicht der richtige Weg wären“. Zugleich werde man in jedem Moment der Krise „natürlich immer auf die aktuelle Situation reagieren müssen und dabei alle Maßnahmen prüfen“. Der Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, forderte unterdessen eine Überarbeitung der Vorrangregeln in einer Gaskrise.
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„Die aktuellen Priorisierungsregeln in einer Gasmangellage wurden für eine kurzfristige Unterbrechung einzelner Leitungen geschaffen“, sagte Russwurm. Weil auf Deutschland jetzt ein langfristig andauernder Gasmangel zukommen, müsse die Politik in Berlin und Brüssel eine neue Regelung schaffen und alle Teile der Gesellschaft entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit in die Pflicht zu nehmen. Um sich von Energielieferungen aus Russland zu lösen, will die Europäische Union künftig deutlich mehr Gas aus der Südkaukasus-Republik Aserbaidschan beziehen.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev unterzeichneten am Montag in Baku eine Absichtserklärung, wonach über den südlichen Gaskorridor innerhalb von fünf Jahren doppelt so viel Gas im Jahr geliefert werden soll wie bisher. Ab 2027 sollen demnach jährlich mindestens 20 Milliarden Kubikmeter fließen.
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