Essen. Ihre Lebensräume verschwinden immer mehr: Viele Vogelarten könnten bald aussterben. Eine bittere Bestandsaufnahme zum Tag der Artenvielfalt.
Nehmen wir nur den Kiebitz: Der Vogel sei „typisch für Wiesen und Felder des Tieflandes“, heißt es da. Er sei „gesellig“ und trete „meist in großen Scharen“ auf.
Oder das Rebhuhn: Der „rundliche Hühnervogel“ tummele sich auf „Feldern, Weiden, Ödland, Mooren, Sanddünen usw.“. Als Verbreitungsgebiet wird, ähnlich wie beim Kiebitz, nahezu das gesamte Gebiet West-, Mittel- und Osteuropas angegeben – von der Südküste Spaniens bis in die Weiten Russlands.
So jedenfalls steht es in Pareys „Die Vögel Europas“, dem Standardwerk des ornithologisch interessierten Laien. Allerdings: Die Zitate stammen aus der 14. Auflage des Vogelführers – erschienen im Jahr 1985. Seitdem hat sich der Bestand der heimischen Vogelwelt dramatisch zum Negativen verändert. So sind die Rebhuhnbestände um 91 Prozent zurückgegangen, von geschätzten drei Millionen Paaren in den 50er-Jahren ist heute in Deutschland noch ein kümmerlicher Rest übrig geblieben – beim Naturschutzbund NABU geht man von 21.000 bis 37.000 Paaren aus. Und beim Kiebitz sind die Bestände in Deutschland zwischen 1992 und 2016 um 88 Prozent zurückgegangen.
Rebhuhn und Kiebitz stehen für viele Vogelarten. Immer mehr Spezies sind in ihrem Bestand stark gefährdet oder vom Aussterben bedroht. Allein in den Ländern der Europäischen Union sind laut einer aktuellen Studie in fast 40 Jahren rund 600 Millionen Brutvögel verschwunden. Ein Vogelschwund von historischem Ausmaß. „Es handelt sich dabei kaum um imposante Großvögel, sondern um die vielen unscheinbaren Finken, Sperlinge und Lerchen, die unsere Wiesen und Felder lebendig machen“, erklärte NABU-Geschäftsführer Leif Miller erst kürzlich in Berlin.
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Es steht nicht gut um den Spatz
Wissenschaftler der britischen Vogelschutzorganisation RSPB, dem internationalen Dachverband des NABU BirdLife International und der Tschechischen Gesellschaft für Ornithologie haben Daten von 378 der 445 in der EU heimischen Vogelarten im Zeitraum 1980 bis 2017 ausgewertet. Besonders betroffen ist demnach der Haussperling, auch Spatz genannt, mit einem Rückgang von 247 Millionen Exemplaren (das entspricht der Hälfte des einstigen Bestandes), gefolgt von der Schafstelze mit 97 Millionen, dem Star mit 75 Millionen und der Feldlerche mit 68 Millionen Exemplaren.
Wo liegen die Ursachen für die Entwicklung? Zwar untersuchten die Forscher in ihrer Studie nicht ausdrücklich die Gründe für das Verschwinden der Vögel, es zeigt sich aber doch, dass insbesondere die Intensivlandwirtschaft wohl eine Schlüsselrolle spielt. Denn: „Die Studienergebnisse zeigen auf bedrückende Weise, dass es bisher nicht gelungen ist, Vögeln in der Agrarlandschaft ein Überleben zu sichern“, so Sven Trautmann vom Dachverband Deutscher Avifaunisten (DDA), der die deutschen Daten für die Studie beisteuerte. „Die Intensivlandwirtschaft zwingt unsere Vögel in die Knie.“ Es bestehe „ein dringender Bedarf, Vögel, die mit der Landwirtschaft verbunden sind, sowie Langstrecken-Zugvögel wie Schafstelze und Fitis auf ihren Zugrouten zu schützen“, betont auch NABU-Vogelschutzexperte Eric Neuling.
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Die heimische Vogelwelt steht exemplarisch für das drohende Artensterben. Von den rund 48.000 hierzulande heimischen Tierarten gelten mehr als 7000 als gefährdet oder gar akut vom Aussterben bedroht. Betrachtet man das Problem global und nimmt man sämtliche Tierarten in den Fokus, dann sind sich Experten einig, dass es zwar auch eine natürlich Aussterberate gibt; diese werde jedoch durch menschliches Handeln um den Faktor 100 bis 1000 überboten. Die Umwandlung natürlicher Ökosysteme in industrielle Agrarräume gilt als wichtigste Ursache für das Artensterben. Regenwälder werden abgeholzt, Ozeane gleichsam leer gefischt. Die globale Erwärmung überfordert zudem die Anpassungsfähigkeit vieler Tierarten – die Evolution kann mit dem Klimawandel nicht Schritt halten.
Ist das Artensterben also nicht mehr aufzuhalten? Ist die viel beschworene Biodiversität, die Artenvielfalt also, schon bald Vergangenheit? Nicht unbedingt.
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Die Brutvögel-Studie nämlich bietet auch Anlass zur Hoffnung. Das sagt zumindest Fiona Burns, Haupt-Autorin der Studie. Der Großteil der Rückgänge sei in der ersten Hälfte des Studienzeitraums registriert worden. Aus anderen Studien sei bekannt, dass spezielle Programme zum Schutz bestimmter Arten und EU-Richtlinien vielen Vögeln geholfen hätten.
Es gibt auch Profiteure in der Vogelwelt
Und: Es gibt offenbar unter den Vögeln auch Gewinner der veränderten Lebensbedingungen. Dazu gehören auf der einen Seite Vogelarten, die sich an das Leben in der unmittelbaren Umgebung von Menschen gewöhnt haben und keine besonderen Ansprüche an ihren Lebensraum stellen, oder Spezies, die in Wäldern leben. Auch der Klimawandel mit den milderen Wintern könnte sich – zumindest zeitweise – positiv ausgewirkt haben. Größte Profiteure sind die Mönchsgrasmücke, deren Population sich um mehr als 50 Millionen Exemplare erhöht hat, der Zilpzalp, die Amsel und der Zaunkönig, die ihre Bestände in Europa in den letzten Jahrzehnten jeweils um mehr als 25 Millionen Exemplare erhöht haben.
Zudem zeigte die Studie, dass sich auch bei mehreren Greifvogelarten die Situation deutlich verbesserte. Der Grund: Maßnahmen zum besseren Schutz vor Verfolgung. Die Rettung etwa von Seeadler und Wanderfalke zeigt den Machern der Studie zufolge, dass Naturschutzvorgaben funktionieren könnten. Auch scheine sich der Hauptteil des Vogelschwundes vor der Jahrtausendwende abgespielt zu haben und seitdem abzuschwächen.
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„Es geht um unsere Lebensgrundlagen“
Hoffnung setzt die Expertin Burns in die Vertragsstaatenkonferenz der Konvention für Biologische Vielfalt (CBD). Daran sind rund 200 Staaten beteiligt. Das angestrebte Abkommen soll weltweit das Artensterben, die Zerstörung der Natur und den Verlust von Lebensräumen für Flora und Fauna stoppen. Das Ziel ist, 30 Prozent aller Meeres- und Landflächen bis 2030 unter Schutz zu stellen. Zur Zeit sind nur rund 8 Prozent der Meere und 17 Prozent der Böden geschützt. Allerdings: Die Verhandlung stocken seit einiger Zeit. Für die Umsetzung der Ziele ist viel Geld nötig, über die Höhe der Mittel wird noch gestritten.
Ende März gingen die Verhandlungen über das Abkommen in Genf ohne Einigung auf ein unterschriftsreifes Papier zu Ende. Um den Text für die geplante Abschlusskonferenz im Spätsommer in Kunming in China fertigzustellen, sollen Ende Juni in Nairobi weitere Gespräche stattfinden. Umweltorganisationen forderten mehr politisches Engagement von Deutschland und anderen Staaten, um das Rahmenabkommen zum Abschluss zu bringen. „Es ist deutlich spürbar, dass das Thema Biodiversität in den Regierungen nicht die Priorität hat, die es bei der Dringlichkeit dieser Krise bräuchte. Das ist fatal, denn es geht um unsere Lebensgrundlagen“, sagte Florian Titze vom WWF Deutschland. mit dpa
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