Kiew. 20 Stunden für 200 Kilometer. Die Flucht aus der Ukraine ist eine Tortur. Unser Reporter fährt mit – und berichtet Herzzerreißendes.
Wolodomir löffelt den heißen Eintopf aus der Plastikschüssel, tritt von einem Fuß auf den anderen. Er ist völlig übermüdet, erschöpft von den vergangenen Tagen. In der Luft hängt der beißende Rauch der Feuer, an denen sich die Menschen in der bitterkalten Nacht gewärmt haben. Fünfzig Meter hinter Wolodomir liegt der Grenzübergang zur Slowakei. Hunderte Menschen stehen davor, mit Rucksäcken und Koffern, in denen sie Reste ihres bisherigen Lebens verstaut haben.
Vor einer halben Stunde hat Wolodomir seine Frau und seine Tochter verabschiedet. Sie sind in der Slowakei, in Sicherheit. Er muss in der Ukraine bleiben, weil er 43 Jahre alt ist, ein Mann im kampffähigen Alter.
„Ich stamme aus Donezk“, erzählt er in fließendem Englisch. „2014 bin ich aus meiner Heimatstadt vor den Russen nach Kiew geflohen. Am Donnerstag sind wir von Explosionen geweckt worden, und dann bin ich wieder geflohen. Das ist einfach Wahnsinn.“
Schon an Tag zwei der Invasion wird es schwierig
Drei Tage vorher in Kiew. Die Straßen im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt sind an diesem Freitagmorgen wie leergefegt. Immer wieder heulen die Sirenen des Luftschutzes. Die wenigen Menschen, die noch unterwegs sind, hetzen in die U-Bahn-Stationen. Die meisten Hotels schließen. Wer kann, macht sich auf den Weg Richtung Westen.
Es ist schwierig, am Tag Zwei des russischen Überfalls noch Mitfahrgelegenheiten zu finden, die Taxi-Dienste sind nicht mehr erreichbar, die Autovermietungen haben geschlossen. Auf der Peremohy, dem Siegesprospekt, einer der größten Straßen in Kiew, deutet sich das Drama an, die größte europäische Fluchtbewegung seit den Balkankriegen.
Der Verkehr staut sich stadtauswärts. Hunderte Menschen stehen am Straßenrand, halten den Daumen raus, winken, sie wollen mitgenommen werden. Ukrainische Soldaten haben provisorische Checkpoints errichtet, versuchen, das Chaos zu ordnen. An der U-Bahn-Station Beresteiska hat das Militär mit Sandsäcken abgesicherte Stellungen aufgebaut, die Männer hier haben Panzerabwehrwaffen, bereiten sich auf den russischen Einmarsch vor. Vereinzelt haben noch Geschäfte geöffnet, vor denen die Menschen Schlange stehen. Aus der Ferne ist mehrfach das krachend-dumpfe Geräusch einschlagender Geschosse zu hören.
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Die Straßen sind voll – mit Autos und Panzern
Die Peremohy geht in die Autobahn M06 über. Auf den beiden Spuren stadtauswärts wälzt sich eine Blechlawine langsam Richtung Westen. Immer wieder wechseln Autofahrer auf die Gegenfahrbahn, um schneller voranzukommen. Nicht immer geht das gut. Mehrere Autowracks liegen verlassen am Rand der Straße, die Polizei hat keine Zeit, die Unfälle aufzunehmen.
Richtung Kiew sind vor allem Militärtransporte unterwegs, Sattelzüge mit Panzern und Haubitzen, Flugabwehrsysteme, Truppentransporter. Vor den Raststätten stauen sich die Fahrzeuge von Menschen, die tanken müssen, über mehrere hundert Meter, die Regale sind leer.
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Bei Korostyschew 120 Kilometer entfernt von Kiew hat eine ukrainische Bürgerwehr einen Checkpoint errichtet. Die Männer sind schwerbewaffnet, tragen Pumpguns, Sturmgewehre, und sie sind nervös. Sie sagen, russische Einheiten stünden 20 Kilometer weiter nördlich. „Wir schützen das Eigentum unserer Mitbürger vor den Russen“, erklärt einer und deutet auf einen Parkplatz, auf dem etliche Fahrzeuge stehen. Ein anderer schießt in die Luft, als zu viele Autos auf die Gegenfahrbahn gesteuert werden.
Aus einem ankommenden Truppentransporter springen Soldaten, einer muss gestützt werden, er ist schwer verletzt, blutet aus einer Bauchwunde. „Slawa Ukraini“, „Ruhm der Ukraine“, ruft einer der Milizionäre, „Herojam Slawa“, „Ruhm den Helden“, antworten andere mit hochgereckter Faust.
Am Bahnhof herrscht Chaos
Als die Nacht anbricht, führt die Fahrt durch abgedunkelte Städte, die Straßen sind menschenleer, es herrscht Ausgangssperre. Viele Raststätten sind geschlossen, es gibt keinen Sprit mehr. In geparkten Autos sind die Fenster beschlagen von dem Atem der Menschen, die in ihnen schlafen. Bei Sonnenaufgang ist Lwiw erreicht. Die 550 Kilometer lange Fahrt hat fast 20 Stunden gedauert. Sämtliche Hotels in der Stadt, die früher Lemberg hieß, sind ausgebucht, von hier aus sind es noch 80 Kilometer bis Polen. Lesen Sie außerdem: Russland-Sanktionen in Kraft – So geht es den Menschen
Am Bahnhof herrscht Chaos. Am Morgen hat es auch so weit im Westen Luftalarm gegeben. Tausende Flüchtlinge versuchen an Informationen und an Tickets für die Weiterreise zu kommen. Es ist völlig unklar, ob und wann Züge fahren. Wasilina, 38, erzählt, dass sie sich mit ihrer Tochter aus dem Charkiw hierhin gerettet hat, ihr Mann kämpft in der Stadt. „Glaubt nicht den Fake-News, dass die Russen Charkiw erobert haben“, sagt sie.
Sie will jetzt weiter nach Polen. „Ich versuche, einen Status als Flüchtling zu bekommen.“ Unter den Menschen hier am Bahnhof sind viele Ausländer. Es heißt, Afrikaner, die in der Ukraine studieren oder arbeiten, würden an manchen polnischen Grenzübergängen teils mit Gewalt zurückgedrängt.
Es dauere ohnedies Tage, bis man nach Polen hineinkomme, berichten etliche Menschen. An den Grenzübergängen zur Slowakei gehe es schneller. Also geht die Fahrt weiter Richtung Süden, durch die Ausläufer der ukrainischen Karpaten. Auch auf dem Weg fließt der Verkehr nur zäh, meist geht es nur mit Schrittgeschwindigkeit voran.
Bis zum Grenzübergang Malyi Bereznyi sind es 200 Kilometer. Die Reise dauert erneut über 20 Stunden. Vor dem Grenzübergang stauen sich am Sonntag die Fahrzeuge auf eine Länge von zehn, fünfzehn Kilometer. Manche verbringen schon die zweite Nacht in der Eiseskälte. Nur alle zehn Minuten kann ein Auto die Grenze passieren.
Bei manchem liegen die Nerven blank
Freiwillige aus der Slowakei und der Ukraine verteilen warmes Essen und Getränke an die Wartenden. Es kommen Transporte mit Holz an, das in Metalltonnen verfeuert wird, es ist die einzige Möglichkeit, für diejenigen, die zu Fuß gekommen sind, sich in den frühen Morgenstunden aufzuwärmen, ehe die Sonne aufgeht. Die meisten Flüchtlinge warten geduldig und diszipliniert.
Anderen gehen die Nerven durch. Als ein Autofahrer vordrängelt, rastet ein Mann aus, trommelt an das Fenster, schreit mit sich überschlagender Stimme und rotem Gesicht: „Ich warte hier zwei Tage, zwei Tage, und du durchbrichst die Linie, du Schwein!“
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Busse spucken Flüchtlinge aus, die sich zu Fuß mit ihrem Gepäck die letzten Meter zu dem Grenzposten schleppen. Unter ihnen sind viele Kinder, schwangere Frauen, Menschen, die ihre Katzen und Hunde mitgebracht haben. Olga und Iwan haben Venja dabei, eine kleine Bulldogge. Das junge Ehepaar hat vier Tage aus Kiew hiergebraucht.
„Das ist die furchteinflößendste Zeit meines Lebens“, sagt Olga. Ihre Angehörigen sind noch in Kiew. „Wir haben mit ihnen noch kürzlich über Whatsapp und Telegram gesprochen. Es war vielleicht das letzte Mal, das wir ihre Stimmen gehört haben“, sagt Iwan.
Wenige Meter weiter steht Wolodomir, der gerade seine Familie verabschiedet hat, an dem Tisch vor dem Food-Truck und hat seinen Eintopf gegessen. Er atmet tief durch. „Ich habe für eine amerikanische Maschinenbau-Firma gearbeitet“, erzählt er. "Es ist unvorstellbar. Du lebst ein normales Leben. Und dann wirst du von Explosionen geweckt und plötzlich ist alles anders. Du verlierst deine Arbeit, verlässt deine Wohnung und wirst von deiner Familie getrennt."
Was er vorhat? Er zuckt mit den Schultern. Eventuell zurück nach Kiew. Vielleicht wird er sich bewaffnen.