Erfurt. Der neue Bundesratspräsident Bodo Ramelow über die Enttarnung des NSU vor zehn Jahren – und über die Verletzungen der Ostdeutschen.

Bodo Ramelow ist der erste Linken-Politiker, der das Amt des Bundesratspräsidenten für ein Jahr übernimmt. Thüringens Ministerpräsident sagt im Interview mit unserer Redaktion, wie er mehr Verständnis zwischen Ost- und Westdeutschen schaffen will. Seine Amtszeit beginnt allerdings mit einem Jahrestag des Schreckens.

Herr Ramelow, vor genau zehn Jahren ist die rechtsextreme Terrorzelle NSU aufgeflogen. Welche Erinnerung haben Sie an diesen Tag?

Bodo Ramelow: Es gibt Tage, an denen man spürt, dass man sie ein Leben lang nicht mehr los wird. Dieser gehört dazu. Ich war damals Fraktionsvorsitzender der Linken im Thüringer Landtag und bekam Nachricht von der Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht, dass in der Ortschaft Stregda die Rechtsextremisten Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos erschossen in einem Wohnmobil aufgefunden worden sind. Mir ist es eiskalt den Rücken heruntergelaufen. Da war mir noch gar nicht klar, dass ich beide persönlich kenne.

Woher kannten Sie die NSU-Terroristen?

Ramelow: Es war für mich ein richtiger körperlicher Schock, als ich die Gesichter der beiden Uwes zum ersten Mal auf der Titelseite einer Tageszeitung gesehen habe. Ich konnte mir erst gar nicht erklären, warum diese Augen bei mir so etwas auslösen. Das war unheimlich. Meine Seele gab ein Alarmsignal. Dann hat mir eine Kollegin Aufnahmen aus dem Jahr 1996 gezeigt, vom Prozess gegen den Rechtsextremisten Manfred Roeder, der die Wehrmachtsausstellung in Erfurt beschädigt hatte. Ich war Zeuge der Anklage. Die Aufnahmen zeigen, wie ich aus dem Gerichtssaal komme. Und die beiden sind hinter mir her.

Für ein Jahr an der Spitze des Bundesrates: Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, der in Erfurt eine Minderheitsregierung aus Linken, SPD und Grünen führt.
Für ein Jahr an der Spitze des Bundesrates: Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, der in Erfurt eine Minderheitsregierung aus Linken, SPD und Grünen führt. © Sascha Fromm | Sascha Fromm

Mundlos und Böhnhardt haben Sie bedroht?

Ramelow: Diese zwei Typen waren im Prozess gegen Roeder immer direkt hinter mir - egal, wo ich mich bewegt habe. In derselben Zeit hat es einen Einbruch in mein Büro im Gewerkschaftshaus gegeben. Und im Keller wurde ein Brand gelegt. Ich bin von Böhnhardt und Mundlos bedroht worden, und diese Menschen sind Mörder. Sie haben in einer beispiellosen Mordserie viel Leid über Menschen gebracht, sie haben vielfach getötet, Leben ausgelöscht und Familien zerstört.

Hat der Staat die richtigen Lehren aus der Mordserie gezogen?

Ramelow: Wir haben in Thüringen eine ganze Menge an Lehren gezogen. Wir haben in einer parteiübergreifenden Übereinkunft einen Sonderermittler eingesetzt. Daraus ist dann ein Untersuchungsausschuss entstanden. Und wir haben den Verfassungsschutz reformiert. Aber wenn Sie mich fragen, ob wir insgesamt die Ernsthaftigkeit der Bedrohung erkannt haben – ganz klar: Nein. Für mich bleibt der ungute Beigeschmack, dass der NSU nicht alleine gehandelt hat.

Sondern?

Ramelow: Jedenfalls haben nicht drei oder fünf Personen als Täter agiert. Es gab ein viel größeres Netzwerk, dem man sich zu wenig gewidmet hat. Und ich halte es immer noch für möglich, dass Mundlos und Böhnhardt gar nicht Selbstmord begangen haben. Ich erkenne abstrakt Muster einer ordnenden Hand, aber ich erkenne nicht welche. Spätestens bei der Mordtat in Kassel bleiben bittere Fragen, denn es war ein hessischer Mitarbeiter vom Verfassungsschutz am Tatort. Wirklich Zufall?

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Was werfen Sie dem Verfassungsschutz vor?

Ramelow: Da muss gar nicht der Verfassungsschutz alleine verstrickt gewesen sein. Es gab auch ein Zusammenspiel vom Militärischen Abschirmdienst über den Verfassungsschutz bis zum Bundesnachrichtendienst. Aber außer allgemeinen Hinweisen fehlte immer ein zweiter Beleg für das, was ich als ordnende Hand bezeichne. Da können auch internationale rechtsextremistische Netzwerke eine größere Rolle gespielt haben. Meine Zweifel bleiben. Ich frage mich: Gibt es eine Sicherheitsarchitektur hinter der Sicherheitsarchitektur, auf die die parlamentarischen Kontrolleure keinen Zugriff haben?

Das klingt abenteuerlich. Geht es Ihnen immer noch um die Auflösung des Verfassungsschutzes?

Ramelow: Der Thüringer Verfassungsschutz war nach der NSU-Mordserie so diskreditiert, dass er hätte aufgelöst werden müssen. Seither hat es einen Veränderungsprozess gegeben. Da wir einen Koalitionsvertrag mit SPD und Grünen haben, wiederhole ich meine Forderung nicht. In diesem Koalitionsvertrag steht aber etwas Besonderes: Dass der Einsatz von V-Leuten mit dem Ministerpräsidenten vorher geklärt sein muss. Ich bin froh, dass wir mit Stephan Kramer einen Verfassungsschutzpräsidenten haben, der früher Generalsekretär des Zentralrats der Juden war und völlig unverdächtig ist, mit Nazis zu kollaborieren.

Sie standen lange Jahre selbst im Visier des Verfassungsschutzes - wegen anti-demokratischer Bestrebungen. Was hat das mit Ihnen gemacht?

Ramelow: Ich bin froh, dass wir in einem demokratischen Rechtsstaat leben, in dem es mir möglich war, gegen meine Observation zu klagen. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass von Anfang an alle Ansatzpunkte meiner unangenehmen Begleitung verfassungswidrig waren. Es war eine unglaubliche Anmaßung, mich 30 Jahre als Verdachtsfall zu führen.

Sie sind der erste Politiker der Linkspartei, der Präsident des Bundesrates geworden ist. Wofür wollen Sie das hohe Staatsamt nutzen?

Ramelow: Ich nutze das Amt, um den Föderalismus zu stärken. Ich bin für ein Jahr der Sprecher für 16 Bundesländer.

„Zusammen wachsen“ - warum haben Sie dieses Motto gewählt, drei Jahrzehnte nach der Wende?

Ramelow: Unabhängig von der Wende laufen Entwicklungen auseinander. Das hat gerade die Bundestagswahl wieder gezeigt. Dieses Motto meint nicht nur das Ost-West-Thema, sondern auch Stadt und Land, Jung und Alt, Oben und Unten. In meiner Einführungsrede am Freitag im Bundesrat werde ich sagen, dass wir es nötig haben, andere Standpunkte auch mal stehen zu lassen und zu durchdenken. Es geht darum, Brücken zu bauen. Und nicht darum, Recht zu behalten um jeden Preis.

Wie fremd sind sich Ost- und Westdeutsche geblieben?

Ramelow: Ich bin mit Situationen konfrontiert, in denen ich spüre, warum Ostdeutsche sich verletzt fühlen. Damit meine ich Sätze wie: „Euch muss man erst einmal Arbeiten beibringen.“ Das hat der Vorstandsvorsitzende einer Bank bei einem Arbeitskampf gesagt, den ich noch als Gewerkschafter geführt habe.

Fahndungsbilder von den beiden später tot aufgefundenen NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt (l.) und Uwe Mundlos.
Fahndungsbilder von den beiden später tot aufgefundenen NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt (l.) und Uwe Mundlos. © dpa | Frank Doebert

Ostdeutsche Verletzungen hat auch die Bundeskanzlerin in ihrer letzten Rede zum 3. Oktober thematisiert.

Ramelow: Von dieser Rede war ich begeistert. Ich hätte das nicht mehr erwartet. Ich bin davon überzeugt, dass Angela Merkel nur Kanzlerin und CDU-Vorsitzende sein konnte, weil sie zwei Dinge verleugnet hat: Frau und Ostdeutsche zu sein. Hätte sie das nicht getan, wäre sie Kohls Mädchen geblieben. Aber das ist kein reines CDU-Problem. Ich habe dieselbe arrogante Art in allen möglichen Organisationen erlebt - auch in meinem Gewerkschaftsvorstand. Das läuft nach dem Motto: „Wir werfen euch vor, ihr wart zu angepasst. Jetzt passt euch bitte an.“ Ich verstehe, dass dieses Verhalten den Ostdeutschen weh tut.

Sind das Beobachtungen aus der Vergangenheit? Oder erleben Sie das immer noch so?

Ramelow: Das passiert immer noch. Mir hat ein junger Mann aus Gera geschrieben, der in Gießen studiert. Er hat solche Verletzungen erlebt, nachdem klar wurde, woher er stammt. Das ist bedenkenswert. Die Mehrheit in Deutschland sind Westdeutsche, die sich überhaupt nicht im Klaren sind, was unser Land mit den Ostdeutschen dazugewonnen hat. Es ist höchste Zeit, dass wir einander mehr zuhören.

Wie sollte der Osten in der neuen Bundesregierung repräsentiert sein?

Ramelow: Es geht nicht darum, dass man einen einzelnen Vertreter irgendwo hinsetzt. Ein ostdeutscher Minister bringt auch nichts, solange das ganze Haus wieder nur westdeutsch ist. Deswegen muss man auch auf die Ebene der Abteilungs- und Referatsleiter schauen.

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Fordern Sie eine Ost-Quote?

Ramelow: Ich halte von allen Quoten-Debatten herzlich wenig. Die eigentliche Frage ist: Wird jemand in der Bundesregierung wieder nur der Vorzeige-Ossi sein? Also der Ostbeauftragte, der nichts zu sagen hat? Wenn man es ernst meint, muss man diese Position im Kanzleramt ansiedeln und mit einem Vetorecht ausstatten. Wenn eine Strukturentscheidung getroffen wird, muss der Ostbeauftragte so lange sein Veto einlegen können, bis wir einen gesamtdeutschen Gleichstand bei der Verteilung der Institutionen haben. Bei der letzten mir vorliegenden Übersicht über die Verteilung von Bundesbediensteten pro 1000 Einwohner liegt der Durchschnitt bei 2,3. In Nordrhein-Westfalen beträgt der Wert aber 4,4 – und Thüringen liegt auf dem letzten Platz mit 0,7. An diesem Beispiel sieht man das Problem.

Sind Sie sicher, dass Sie noch Ministerpräsident sind, wenn Thüringens Bundesratspräsidentschaft endet?

Ramelow: Warum sollte ich unsicher sein?

Neuwahlen in Thüringen sind überfällig.

Ramelow: Ich war für Neuwahlen und hätte auch sehr gerne der Landtagsauflösung zugestimmt. Dafür ist eine Zweidrittelmehrheit notwendig. Ich sehe nur derzeit niemanden, der einen Antrag auf Neuwahlen stellt.

Wie lange können Sie ohne Mehrheit und ohne irgendeine Form der Tolerierung regieren?

Ramelow: Auf das Konzept einer Minderheitsregierung habe ich von Anfang an hingewiesen. Jetzt brauchen gute Anträge auch offene Ohren und über Parteigrenzen hinweg käme man dann jeweils zu Mehrheiten. Der Landeshaushalt 2022 wird die Nagelprobe sein. Ich gehe aber von einem Erfolg aus, denn das Land braucht einen gültigen Haushalt.