Berlin/München. Der NSU-Prozess endet nach fünf Jahren. Reporter Kai Mudra war an über 300 Prozesstagen dabei. Sein Urteil: Die Behörden haben versagt.
An diesem Mittwoch
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. Nach mehr als fünf Jahren ergeht der Richterspruch über Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben und weitere Angeklagte.
Kai Mudra, Reporter der „Thüringer Allgemeinen“, die wie diese Redaktion zur FUNKE Mediengruppe gehört, war an den meisten der über 400 Verhandlungstage im Gericht in München. Ein Gespräch über das Versagen der Sicherheitsbehörden, eine undurchsichtige Angeklagte und den Frust der Opferfamilien.
Das größte Gerichtsverfahren seit der Wende geht zu Ende, Sie waren an etwa 300 der 438 Prozesstage im Gericht in München dabei. Was bleibt für Sie von diesem Prozess?
Kai Mudra: Ich habe sehr viel über die deutsche Justiz und die deutschen Sicherheitsbehörden gelernt. Wie sie arbeiten – und wie viele Löcher es in vielen Bereichen gibt.
Löcher?
Mudra: Damit meine ich Lücken bei den Ermittlungen. Wenn einzelne Beamte oder Abteilungen nicht weiterdenken, nicht über den eigenen Tellerrand hinaus schauen, dann gehen ganze Ermittlungen den Bach hinunter. Es gab so viele Situationen, in denen man sich fragte: Warum haben sich die Behörden nicht diese oder jene Frage gestellt? Warum sind sie dieser oder jener Spur nicht nachgegangen?
Was für Situationen waren das?
Mudra: Etwa beim Sprengstoffanschlag in der Kölner Keupstraße im Jahr 2004. Hätte man statt fünf dann doch zehn Jahre zurück im Archiv gesucht, wäre man mit etwas Glück über Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gestolpert.
Vor zehn, zwölf Jahren waren Behörden – in Ost und West übrigens – ziemlich mit Scheuklappen unterwegs. Die Beamten waren nicht bereit, die richtigen Konsequenzen aus dem Geschehen zu ziehen. Sie haben lieber die Augen zugemacht. Das hat mich erschreckt, denn ich war lange Zeit der Annahme, dass sowas in Deutschland nicht passieren könnte.
Der Prozess hat also Behördenversagen offengelegt?
Mudra: Auf jeden Fall. Ohne zu sehr zu verallgemeinern: Deutschland war auf diese Art von Verbrechen nicht vorbereitet. Es ist nach wie vor eine Schande, dass drei Menschen über zehn Jahre mordend durchs Land zogen und es nicht gelungen ist, die Straftaten aufzuklären. Zwischen 1998 und 2011 haben Mundlos, Böhnhardt und Beate Zschäpe 15 Raubüberfälle begangen – und es gelang erst 2011, dem Trio auf die Spur zu kommen.
Mundlos und Böhnhardt nahmen sich im Herbst 2011 nach einem missglückten Überfall in Eisenach das Leben, das ist Verbreitungsgebiet der „Thüringer Allgemeinen”.
Mudra: Wir waren auch ganz schnell vor Ort. Nur hat uns die Polizei anfangs falsche Informationen gegeben. Wir hatten recht schnell gemerkt, dass es eine Verbindung gibt zwischen den beiden Toten in Eisenach und dem explodierten Haus in Zwickau. Dort hatte Zschäpe ja den letzten Unterschlupf des Trios angezündet und damit in die Luft gesprengt. Diese Verbindung hat die Polizei zunächst vehement abgestritten. Auch da wollten die Beamten das ganze Ausmaß wohl einfach nicht wahrhaben, obwohl es offensichtlich war.
Wann war für Sie klar, welche Dimension das alles hat?
Mudra: Als die Namen der drei bekannt waren. Wir hatten seit 1998 immer wieder über Mundlos und Böhnhardt berichtet. Sie galten ja als untergetauchte Bombenbastler aus der Neonazi-Szene. Lange Zeit standen sie auch auf der Fahndungsliste des BKA, bis irgendwann wegen Verjährung nicht mehr gegen sie ermittelt wurde.
Innerhalb einer Woche war klar, dass es nicht mehr nur um den Überfall in Eisenach ging, sondern um eine ganze Serie. Die Dienstwaffe der getöteten Polizistin Michèle Kiesewetter und ihres Kollegen aus Heilbronn wurden in dem Wohnwagen in Eisenach gefunden. Und die rassistische Mordserie, die bis dahin noch unter dem Begriff „Dönermorde“ bekannt war, kam auch schnell auf das Konto des Trios.
Sie sind seit vielen Jahre Gerichtsreporter. Was war anders bei diesem Prozess?
Mudra: Die schiere Größe. Zu den fünf Angeklagten und ihren - am Schluss - 14 Anwälten kamen 90 Nebenkläger und ihre Anwälte. Sowas hatte ich nie erlebt. Das erforderte natürlich ein ganz anderes Verfahrensmanagement.
Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Mudra: Eines der Opfer hat mich unglaublich beeindruckt. Eine junge Frau, die beim ersten Sprengstoffanschlag 2001 in Köln schwer verletzt wurde. Sie war mit ihrer Familie als politisch Verfolgte aus dem Iran geflohen. Damals, Anfang 2001, stand sie kurz vor dem Abitur. Als die Bombe, die in einer Weihnachtsdose versteckt war, explodierte, wurde die junge Frau schwer verletzt, vor allem im Gesicht. Vom Krankenhaus aus hat sie ihr Abitur gemacht, dann in Bayern Medizin studiert – und heute hilft sie als Ärztin anderen Menschen in Bayern.
Sie war ganz ruhig und sachlich bei ihrer Aussage, ohne eine Spur von Hass. Und das, obwohl sie im Gericht den Menschen gegenüber saß, die nichts anderes als Hass und Verachtung im Sinn hatten. Dieser Kontrast zwischen den Angeklagten und den Opfern hat mich nachhaltig beeindruckt.
Wie haben Sie die Hauptangeklagte Beate Zschäpe erlebt?
Mudra: Anfangs wirkte sie verhältnismäßig entspannt, vielleicht auch überspannt. Sie hat versucht, mit den Polizisten und Gerichtsmitarbeitern zu kommunizieren. Das hat sich aber schnell gelegt. Man hat selten erkannt, was in ihr vorgeht, was sie denkt. Außer, als sie versuchte, ihre Anwälte - Anja Sturm, Wolfgang Heer und Wolfgang Stahl - loszuwerden. Da merkte man recht schnell, dass sie ziemlich zielgerichtet ist.
Geäußert hat sie sich kaum.
Mudra: Nein, nur zwei Mal länger. Einmal hat sie eine Erklärung vorgelesen, vergangene Woche dann ihre Schlussworte. Wirkliche Reue hat sie für mich nicht gezeigt. Sie argumentiert, dass sie mit den Taten nichts zu tun hatte. Nur: Wer über so einen langen Zeitraum mit zwei Menschen zusammenlebt, die Menschen töten und Raubüberfälle begehen, darüber auch reden, der hat keine Ausrede.
Sie glauben ihr nicht?
Mudra: Ich will ihr nicht unterstellen, dass diese fünf Jahre des Prozesses nichts bei ihr bewirkt und sie vielleicht auch zum Nachdenken gebracht haben. Aber sie muss sich vorwerfen lassen, dass sie zwischen 1998 und 2011 mit Mundlos und Böhnhardt zusammengelebt hat. Von den Raubüberfällen hat sie profitiert, von den Morden hat sie - wenn auch hinterher - erfahren. Warum hat sie nicht irgendwann einen Schlussstrich gezogen und ist zur Polizei gegangen?
Der Prozess sollte ja nicht nur die Schuldigen verurteilen, sondern auch eine Art Schlussstrich für die Opferfamilien sein. Ist das gelungen?
Mudra: Viele Familien sind sehr frustriert in das Verfahren gegangen. Gerade die Familien der Opfer hatten ja erlebt, dass sie selbst zu Verdächtigen gemacht wurden, es wurde gegen sie ermittelt, Mafia-Vorwürfe standen im Raum. Und die Aufklärung, die sich die Familien erhofft haben, hat der Prozess nicht geleistet.
Einige der NSU-Morde sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Das gilt für den Fall Halit Yozgat, der in seinem Kasseler Internetcafé durch zwei gezielte Kopfschüsse getötet wurde, aber auch für den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn. Es ist noch immer ganz viel im Dunkeln.
Was haben Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe in den Jahren nach dem letzten Mord 2007 gemacht? Woher kamen die Tipps für ihre Raubüberfälle? Wie wurden die Mordopfer ausgewählt? All das wurde nicht aufgeklärt.
Hat der Prozess den Blick der Gesellschaft auf rechte Gewalt verändert?
Mudra: Auf jeden Fall. Es hätte sicher bis vor wenigen Jahren nur wenige gedacht, dass es eine rechte Terrorgruppe in Deutschland geben kann, die durchs Land zieht und mordet. Die Behörden waren lange Zeit blind.
Das zeigt auch der Umgang mit dem Trio. Es hat sicher Versuche gegeben, die drei zu finden. Aber ich bin der festen Überzeugung: Wenn man Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe wirklich hätte finden wollen, dann hätte man sie auch gefasst.
Die Sicherheitsbehörden wissen spätestens jetzt, dass es gewaltbereite Gruppierungen im extremistischen Lager gibt. Und sie wissen auch, dass die Strukturen verändert werden müssen, um einen besseren Informationsaustausch zwischen den Behörden der Bundesländer zu ermöglichen.
Am Ende bleibt von diesem Riesenprozess auch die Erinnerung an das juristische Klein-klein, an die vielen Unterbrechungen und Befangenheitsanträge. An Anwälte, die nicht länger für die Angeklagte arbeiten wollten. Juristisch eher eine Farce, oder?
Mudra: Nein, ganz und gar nicht. Dass so ein großes Verfahren irgendwann im juristischen Klein-Klein endet, liegt in der Natur der Sache. Man darf nicht vergessen: Das waren zehn Morde, die teilweise zehn Jahre zurücklagen, dazu kamen 15 Raubüberfälle. Man hat 800 Zeugen gehört. Es gibt einzelne Mordprozesse, die dauern länger, als der NSU-Prozess im Ganzen.
Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl hat jedes Opfer, das in den Akten aufgetaucht ist vorgeladen und befragt. Das hat letzen Endes dazu geführt, dass herauskam, dass es einen Kölner Anwalt gab, der ein Opfer vertreten hat, das es gar nicht gab. Wenn das irgendwann nach dem Urteil rausgekommen wäre, wäre der Prozess im Nachhinein vielleicht geplatzt. Alle können dankbar sein, dass das so akribisch gelaufen ist.
Was, wenn die Sicherheitsbehörden, die Polizei und Verfassungsschutzämter im Vorfeld schon besser ermittelt hätten?
Mudra: Dann wäre ein Verfahren in dieser Größe gar nicht notwendig gewesen. Die Justiz steht jetzt ganz am Ende der Kette und muss mit dem arbeiten, was die Ermittler vorgelegt haben. Unter dem Aspekt ist der Prozess ganz gut gelungen.
Wird das Verfahren mit den Urteilen beendet sein?
Mudra: Das glaube ich nicht. Ich gehe davon aus, dass zumindest die Angeklagten Wohlleben und auch Zschäpe in Revision gehen werden. Dann geht der Fall erst vor den Bundesgerichtshof - und dann ist der Weg bis zum Europäischen Gerichtshof denkbar. Die NSU-Morde werden uns also noch weiter beschäftigen.